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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Herrmann, Helene: Ibsens Alterskunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0526

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522 HELENE HERRMANN.

den Blick dessen, der lange mit Ibsen gelebt hat, die menschlichen
Grundtypen durch, die seine inneren Zustände ausdrücken, aber die
Gestalten haben doch viel mehr als früher ein wissenschaftlich-psycho-
logisches Interesse für ihn. Ibsen betont in diesen Jahren immer
wieder in den Briefen, er sei Menschenbildner. Ein gewisser bös-
artiger Blick aus der Nähe ist jener Zeit eigen: man hat gern Bild-
hauer Rubeks Erzählung von den Porträtbüsten, die eigentlich Tier-
fratzen sind, auf diese Zeit angewendet.

In der letzten Periode aber wendet sich der Blick, der so lange
auf den Erscheinungen draußen geruht hat, wieder nach innen. Das
Interesse am vielfältig Menschlichen erscheint bis zu einem gewissen
Grade erschöpft. Obgleich dem Künstler seine psychologische Scheide-
kunst nicht verloren geht, wird doch die geheime innere Verwandtschaft
der Gestalten fühlbarer als früher, und sie scheinen oft mehr Symbole
gewisser Lebensstimmungen als wirkliche Menschen. Ja, sie werden wie
Irene, wie Rita, wie die Rattenmamsell, wie Maja Symbole des Lebens in
seinen verschiedenen Formen. Zuweilen deuten auch die Namen das
an. Wie charakterisiert nun Ibsen? Nicht mehr ausschließlich mit den
kleinen Zügen der hinterlistig abgelauschten, verräterischen Handlungen
der Porträtbüstenzeit, wie wir sie bei Hjalmar und beim Tischler Eng-
strand finden. Jetzt charakterisiert er gern mit Lyrismen, mit Bildern,
die den ganzen Dunstkreis, der um eine Gestalt schwebH, mitbeschwören.
Für John Gabriel Borkman: »einen kranken Wolf habe ich im Käfig,
auf und ab, auf und ab geht der Wolf« ... »jetzt heult der kranke
Wolf«. Rita ist die »Frau mit den goldenen Bergen«. Oder ein aus
tiefster Seele hervorbrechendes Wort des Mannes über seine Frau
gibt die Stimmung berauschender, sieghafter Lebensfülle, die einst um
diese Frau war. Wir sehen im Geschehen des Dramas nichts mehr
von der Wirkung, die sie auf diesen Mann übte, bei seinen Ausein-
andersetzungen darüber sind wir oft ungläubig; aber dies eine Wort,
scheinbar so einfach und doch, wie man fühlen muß, geprägt durch
tiefstes Erleben, hat die Kraft, die Stimmung zu beschwören: »du var
sä fortaerende dejlig, Rita«. (Du warst so verzehrend schön, Rita.)
Und dieses Wort, das hin und wieder in ihrer Nähe auftaucht, tut
mehr für diese Gestalt als ihre Taten und Reden. Das ist lyrische
Wortkunst des späten Ibsen. Hilde Wangel ist »der Raubvogel«,
»der wilde Waldvogel«, sie ist »wie ein grauender Tag«. Rubek »der
zahme Raubvogel« u. s. w. Es beginnt schon in der »Wildente«, wirkt
aber dort noch zu sehr als verstandesmäßig gewonnener Vergleich.
Zuweilen muß auch eine Geste charakterisieren: die Napoleonsgebärde
Borkmans am Schreibtisch, die hastigen kindischen Bewegungen der
kleinen Maja, das schattenhafte Gleiten und die statuarische Haltung
 
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