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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0609

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BESPRECHUNGEN. 605

mans seinen Gesängen gelauscht. Eine neue Philosophie, eine neue Theologie,
eine neue Dichtung glaubten sie aus diesen Klängen vernehmen zu können. Für
den Nichtamerikaner ist diese Tatsache bedeutungsvoll, auch wenn er in die Be-
geisterung nicht ohne Vorbehalt einzustimmen vermag, sie ist als Erscheinung be-
deutungsvoll und verlangt zum mindesten eine psychologische Erklärung.

Die nordamerikanischen Freistaaten sind englische Kolonien; die Abhängigkeit
der Geister hat lange die politische Abhängigkeit überdauert. Noch heute lebt Nord-
amerika geistig vielfach von englischer Einfuhr: nicht nur daß die klassischen Autoren
Englands selbstverständlich zu Klassikern Amerikas geworden sind, auch der Mode-
roman der Londoner Saison findet ein weites Absatzgebiet jenseits des Wassers.
Aber auch die heimische Produktion hat lange Zeit nach englischen Mustern ge-
arbeitet. Cooper und Hawthorne wären ohne den englischen Roman, Washington
Irving ohne den englischen Essay nicht zu denken. Selbst der größte aller Ameri-
kaner, Edgar Allan Poe, weist eine auffällige Verwandtschaft zu de Quincey auf.
Von einer eigentlich amerikanischen Literatur kann man erst von der Mitte des
vorigen Jahrhunderts an reden, denn der bloße Umstand, daß ein Roman seine
Szene an den großen Seen oder in New York hat, macht ihn ebensowenig zum
amerikanischen Roman, wie ein Berliner Roman dadurch zu stände kommt, daß man
Vorgänge nach dem Muster der Pariser nach der Straße Unter die Linden oder
nach Berlin O. versetzt.

Als die in Deutschland bekanntesten Erzeugnisse der neueren eigentlich amerika-
nischen Literatur möchten wir den amerikanischen Humor, die kurze Erzählung und
die episch-lyrische Dichtung bezeichnen, und als deren Vertreter Mark Twain, Bret
Harte, Walt Whitman. Hier glauben wir eigentümliche, bisher noch nicht gehörte
Klänge zu vernehmen, die auf eine Stellungnahme des Menschen zur Wirklichkeit
zurückgehen, wie sie in solchen Formen in der Dichtung Europas bisher noch nicht
zu Tage getreten war. So paradox es klingen mag — diesen drei scheinbar so
weit auseinanderliegenden Erscheinungen ist die Beziehung auf ein und dasselbe
Problem gemeinsam: es ist die eigentümliche Form, die das Unendlichkeitsgefühl
in Amerika angenommen hat, die als ästhetisches Grundmotiv, unter sehr verschiede-
nen Gesichtspunkten natürlich, das Neue in dieser amerikanischen Literatur bildet.
Ganz deutlich wird das zunächst an den tollen Blüten des amerikanischen Humors.
Mit wahrer Meisterschaft wird hier irgend ein alltägliches Vorkommnis aufgeblasen
und vergrößert, bis es ohne Verlust dieser seiner Alltäglichkeit die riesenhafte Aus-
dehnung des amerikanischen Festlandes annimmt und damit ein getreues Abbild von
dem Alltagsleben des Amerikaners gibt, das auch nicht ohne seine Riesenstädte,
ohne die Unermeßlichkeit seines Erdteils denkbar wäre. Der Riese Pantagruel
gehört von Natur einer anderen Rasse an als die Menschen gewöhnlicher Größe;
daher ist es natürlich, daß ihm quantitativ Unglaubliches begegnet. Die Menschen
Mark Twains haben ein Recht auf ihre unglaublichen Erlebnisse, weil sie Bürger
eines »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten« sind.

Unter einem anderen Gesichtspunkt tritt die kurze Erzählung Bret Hartes dem-
selben Problem gegenüber. Niemand wird die Schwäche der größeren Romane
dieses Autors verkennen, er steht hier seinem Stoff in geradezu naiver Hilflosigkeit
gegenüber. Der Stoff aber ist die Darstellung der extensiven Mannigfaltigkeit des
amerikanischen Volkslebens. So greift denn Bret Harte in seiner glücklichsten
Hervorbringung, der kurzen Erzählung, zu dem Mittel, sich auf die Schilderung
der kleinsten und einzelnsten Vorgänge zu beschränken und die großen Zusammen-
hänge als künstlerischen Hintergrund nur zu subintelligieren. Es sind Augenblicks-
bilder aus dem kalifornischen Goldgräber- und Spielerleben; aber was diesen Augen-
 
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