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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0610

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606 BESPRECHUNGEN.

blicksbildern ihren Reiz gibt, ist doch der Ausblick auf die sich bildende große
Kultur, auf den gewaltigen Hintergrund des Landes, das mit all seinen unendlichen
Bodenschätzen, die bisher brach lagen, in den Kreis der modernen Kultur hinein-
gezogen wird. Wir empfinden, daß die gesetzlosen Gesellen Pioniere einer gesetz-
lichen Kultur sind, und gerade dieser Widerspruch verleiht ihrem kleinen persön-
lichen Tun und Leiden einen Zug von tragischer Größe. Das, was der Autor nicht
sagt oder kaum andeutet, gibt seinem Werk den eigentlichen Charakter, die eigen-
tümliche ästhetische Wirkung.

Während wir bei Mark Twain und Bret Harte den Gedanken der Unendlichkeit
mehr als technisches Mittel ihrer künstlerischen Produktion verwendet finden, tritt
er als Problem und Gegenstand in den Mittelpunkt von Walt Whitmans Schaffen.
Deshalb stehn wir nicht an, ihn für den am meisten amerikanischen in dieser Schrift-
stellergruppe zu erklären. Der unendliche Raum seines Landes, die unendlichen
Meere, die es bespülen, die Unabsehbarkeit seiner natürlichen Waldungen, die end-
losen Ergießungen seiner großen Ströme, alles dies zieht in seine Seele ein, und
er ringt danach, diesen Eindrücken die Form zu geben. Das ist ja nichts Neues
in der Dichtung; vom Buch Hiob an schlagen immer die gleichen Klänge an unser
Ohr. Aber neu ist die Stellung des Menschen der Schöpfung gegenüber. Der
Europäer — wie klein fühlt er sich vor den Riesengestalten der Natur! Nur durch
Besinnung auf das moralische Ich konnte Kant der erdrückenden Wucht des quanti-
tativ Unendlichen ein Gegengewicht bieten. Anders die Gebärde des Amerikaners.
In diese schrankenlose Natur hat der Mensch eine zweite Unendlichkeit hinein-
gestellt, und die Menschen, die dies vollbracht haben, sind das eigene geliebte Volk
des Dichters. Die Freiheit des Menschen wird nicht erdrückt von der ungebundenen
Naturkraft, sie benutzt sie vielmehr als ihren besten Nährboden. Gar nichts von
Kulturfeindlichkeit finden wir bei Whitman. Die Riesenstädte Amerikas sind ihm
ebenso ehrwürdig wie das Weltmeer und der Urwald; am ehrwürdigsten aber ist
für ihn das große Staatswesen, die Herrin der unermeßlichen Bodenschätze, der
selbständige Hort der Freiheit, die Stätte der Gerechtigkeit, die dazu bestimmt ist,
allen übrigen Völkern der Welt diese kostbarsten Güter rein zu erhalten und zu
vermitteln. Ja, selbst in dem wilden Bürgerkriege, der die Vereinigten Staaten in
ihren Grundfesten erschütterte, sieht er mit stolzer Freude, welche Kräfte in dem
Riesenleib der Union sich geltend machen. Der Mensch und sein Werk — das tritt
als Zweites, Größeres neben die Natur und ist nur auf dieser unendlichen Grund-
lage möglich.

Es wird niemand an die Begeisterung eines Dichters den kritischen Maßstab
anlegen wollen. Ob New York wirklich »eine Stadt herrlicher Demokratie inmitten
herrlicher Umgebung« ist, ob nicht die Geschichte der Stadtverwaltung New Yorks
ein ganz anderes Bild enthüllt, das hat uns nicht zu bekümmern. Genug, der
Dichter hat diese Stadt so gesehen. Aber eine ganz andere Frage ist es, ob es
ihm auch gelungen ist, das Geschaute zum Bilde zusammenzufassen; und hier muß,
wie ich glaube, die Kritik einsetzen. Whitman hat die große Aufgabe einer amerika-
nischen Dichtung der Zukunft gesehen, aber er ist weit davon entfernt gewesen,
sie zu lösen. Der mächtige Inhalt hat die Form zersprengt. Die lang ausschreiten-
den Rhythmen, in die Whitman seine Empfindungen sich ergießen läßt, sind nicht,
wie seine Bewunderer uns glauben machen wollen, die neuen Formen, die dem
neuen Inhalt genau entsprechen. Sie stehen, nach ihrer formalen Seite genommen,
nicht höher als die Streckverse Jean Pauls und zeigen ebenso wie diese ein offen-
kundiges Mißverhältnis zwischen Form und Inhalt, ein verhängnisvolles Versagen
gegenüber der Aufgabe, den Stoff zu gestalten. Es ist mir kein einziges Gedicht
 
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