566 THEODOR A. MEYER.
und Lyrik; je mehr es sich in Stimmung löst, desto eher gibt es der
vollen Einfühlung Raum. Das Lustspiel schließt sie wohl gänzlich
aus; dagegen mag sie uns in der Tragödie zuteil werden, wo die
tragischen Persönlichkeiten die Rührung, von der sie selbst ergriffen
sind, auf uns übertragen, oder wo der tragische Held sein Weh als
allgemeines Weh empfindet und sich zugleich über dieses Weh sieg-
reich erhebt. Wer tauchte nicht willig unter in dem Strom edelster
Rührung, der in der letzten Szene der Walküre fließt, oder wer würde
sich nicht in schmerzverklärter Wonne mit emportragen lassen durch
Brunhilde, da sie sich über das Weltweh erhebend als die Verkünderin
einer neuen Zeit fühlt. Die Beispiele sind aus dem Musikdrama ge-
nommen; aus dem Gesagten ergibt sich, warum das Drama in musi-
kalischem Gewand auf seinen Höhepunkten besonders leicht die eksta-
tische Form des Kunstgenusses herbeiführt. In der Tat beruht die
faszinierende Gewalt, die das Wagnersche Kunstwerk ausübt, nicht
zum wenigsten auf dieser mitreißenden Kraft, mit der es das mystische
Verschwimmen des eigenen Ichs in den hochgehenden Wogen eines
fremden Lebens erzwingt. Namentlich der Tristan ist voll von solchen
Momenten einer die Schranken des Ichs niederwerfenden Kunst. Was
er predigt, die Süßigkeit und Erhabenheit der Aufgabe des Ichs, zwingt
uns, die Musik immer wieder zu erleben. Darin liegt die Einzigartig-
keit dieses hohen Werks begründet.
In der Tatsache also, daß wir unter günstigen Bedingungen an
bestimmten Höhepunkten des Kunstwerks mit unserer Seele ganz im
Kunstwerk sind, liegt die Wahrheit der Einfühlungstheorie. Aber auch
der Unterschied unserer Auffassung von jener Theorie ist deutlich.
Das Einfühlen in unserem Sinn hat zu seiner Voraussetzung das Ein-
leben (die anschauliche Vorstellung) und das Nachfühlen intuitiv er-
kannter Gefühle und Stimmungen und verlangt eine Beschaffenheit
des Kunstwerks, die gestattet, die Wonne, die das Kunstwerk bereitet,
wieder an es als seine Seele zurückzugeben. Dazu kommt, daß auch
an den Stellen, die dem Einfühlen Raum lassen, es sich nicht immer
und nicht notwendig zeigt. Selbst hoher Kunstgenuß ist ohne dieses
mystische Versinken der Seele im Kunstwerk möglich. Die Erfahrung
wird immer wieder gemacht, daß am selben Kunstwerk, an dem es
sich das eine Mal einstellte, es das andere Mal ausbleibt, und daß
auch ohne diese Ekstase das Kunstwerk erheben und ergreifen kann.
Auch sind die Veranlagungen der Kunstfreunde in dieser Hinsicht
verschieden. Der Enthusiast mit der hingebenden, leicht erregten Seele
wird sich schnell hineingezogen fühlen in den Lebensstrom des Kunst-
werks, während die kühlere selbständigere Verstandesnatur viel länger
den Standpunkt der Betrachtung wahren und sich nur selten über ihn
und Lyrik; je mehr es sich in Stimmung löst, desto eher gibt es der
vollen Einfühlung Raum. Das Lustspiel schließt sie wohl gänzlich
aus; dagegen mag sie uns in der Tragödie zuteil werden, wo die
tragischen Persönlichkeiten die Rührung, von der sie selbst ergriffen
sind, auf uns übertragen, oder wo der tragische Held sein Weh als
allgemeines Weh empfindet und sich zugleich über dieses Weh sieg-
reich erhebt. Wer tauchte nicht willig unter in dem Strom edelster
Rührung, der in der letzten Szene der Walküre fließt, oder wer würde
sich nicht in schmerzverklärter Wonne mit emportragen lassen durch
Brunhilde, da sie sich über das Weltweh erhebend als die Verkünderin
einer neuen Zeit fühlt. Die Beispiele sind aus dem Musikdrama ge-
nommen; aus dem Gesagten ergibt sich, warum das Drama in musi-
kalischem Gewand auf seinen Höhepunkten besonders leicht die eksta-
tische Form des Kunstgenusses herbeiführt. In der Tat beruht die
faszinierende Gewalt, die das Wagnersche Kunstwerk ausübt, nicht
zum wenigsten auf dieser mitreißenden Kraft, mit der es das mystische
Verschwimmen des eigenen Ichs in den hochgehenden Wogen eines
fremden Lebens erzwingt. Namentlich der Tristan ist voll von solchen
Momenten einer die Schranken des Ichs niederwerfenden Kunst. Was
er predigt, die Süßigkeit und Erhabenheit der Aufgabe des Ichs, zwingt
uns, die Musik immer wieder zu erleben. Darin liegt die Einzigartig-
keit dieses hohen Werks begründet.
In der Tatsache also, daß wir unter günstigen Bedingungen an
bestimmten Höhepunkten des Kunstwerks mit unserer Seele ganz im
Kunstwerk sind, liegt die Wahrheit der Einfühlungstheorie. Aber auch
der Unterschied unserer Auffassung von jener Theorie ist deutlich.
Das Einfühlen in unserem Sinn hat zu seiner Voraussetzung das Ein-
leben (die anschauliche Vorstellung) und das Nachfühlen intuitiv er-
kannter Gefühle und Stimmungen und verlangt eine Beschaffenheit
des Kunstwerks, die gestattet, die Wonne, die das Kunstwerk bereitet,
wieder an es als seine Seele zurückzugeben. Dazu kommt, daß auch
an den Stellen, die dem Einfühlen Raum lassen, es sich nicht immer
und nicht notwendig zeigt. Selbst hoher Kunstgenuß ist ohne dieses
mystische Versinken der Seele im Kunstwerk möglich. Die Erfahrung
wird immer wieder gemacht, daß am selben Kunstwerk, an dem es
sich das eine Mal einstellte, es das andere Mal ausbleibt, und daß
auch ohne diese Ekstase das Kunstwerk erheben und ergreifen kann.
Auch sind die Veranlagungen der Kunstfreunde in dieser Hinsicht
verschieden. Der Enthusiast mit der hingebenden, leicht erregten Seele
wird sich schnell hineingezogen fühlen in den Lebensstrom des Kunst-
werks, während die kühlere selbständigere Verstandesnatur viel länger
den Standpunkt der Betrachtung wahren und sich nur selten über ihn