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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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96 BESPRECHUNGEN.

Produkten der Poesie fehlt aber der Ausdruck des geistigen Bewußtseins als Wort«.
Nur der Mensch als freies Wesen hat das Wort zur Verfügung, welches er zum
Denken und Dichten benutzt. Nicht jeder Mensch aber vermag das passende Wort
zu finden, das kann nur der gottbegeisterte Dichter. Unser Verhalten zum ge-
sprochenen Wort hängt von unserem freien Willen ab, aber durchaus nicht von
irgendwelchen materiellen Ursachen. Die menschliche Freiheit hat nur Ziel und
Gesetz in der Religion. Das Ziel aller Erkenntnis ist die Religion, für die Kunst
ist Religion die bewegende, kraftspendende Quelle, diese Ahnung des Ewigen gibt
dem Dichter die Möglichkeit der Begeisterung. Zwischen dem Propheten und dem
Dichter besteht eine gewisse Verwandtschaft. Beide sagen den Menschen Neues,
zuvor Unbekanntes. Der Prophet steht der göttlichen Offenbarung näher, als die
übrigen Menschen, und der Dichter steht dem Leben der Natur näher, als die
anderen. Das Christentum führt die Poesie »zu ihrer rechten Macht und Freiheit«.
Nicht am Anfange des Christentums blühte die christliche Poesie, sondern allmäh-
lich holte sie sich ihren Inhalt.

In der dritten Vorlesung wird »die Geschichte der vorchristlichen Poesie« be-
handelt. Auf einem natürlichen Boden entwickelte sich die griechisch-römische
Poesie, die hebräische gehorchte »dem unbedingten Glauben an eine höhere gött-
liche Offenbarung«, die orientalische Poesie nimmt eine Zwischenstellung ein. Die
christliche Poesie nimmt einen höheren Standpunkt ein.

In der griechischen Poesie wurde von den ersten Dichtern die Göttergeschichte
gemacht. Den Kampf des Menschen mit dem Schicksal schildert das griechische
Drama; die Lyrik bringt die Begeisterung für den Augenblick. Dann kommen
wieder Dramen, welche die alte Götterlehre nach ihrem Wohlgefallen umgestal-
teten. — Bei den Römern sieht es anders als bei den Griechen aus. Hier spielt
das religiöse Moment in der Poesie keine Rolle mehr. Vergil gibt den Römern
keine Göttergeschichte, sondern eine Geschichte des römischen Volkes. Horaz ver-
herrlicht nur den Augenblick. Ovid war zynisch. Martial und Juvenal begeisterten
das sittenlos gewordene Volk für keine neue Idee.

In der hebräischen Poesie fehlt das Epos, ein, Ersatz dafür sind die Bücher
Mosis, die die Urgeschichte der Welt und des Menschengeschlechtes geben. Auf
dem Boden der mosaischen Religion war kein Epos möglich; der religiöse Inhalt
hätte im Epos seine Bedeutung verloren. In der Lyrik sprach sich das Gottvertrauen
aus, das Höchste sind hier die Psalmen Davids. Das Hohelied und Hiob bilden
einen Übergang zur epischen und dramatischen Kunst. Am Schluß, im Prophetentum,
kehrt die hebräische Poesie wieder zu ihrem himmlischen Ausgangspunkt zurück.

Die orientalische Poesie wendet sich einerseits der griechisch-römischen, ander-
seits der hebräischen zu.

Die indische Poesie beginnt mit dem Epos, in das die brahmanische Lehre ein-
gefügt wird. Die Lyrik kam nicht zustande, »da die Einheit der persönlichen Empfin-
dung sich stets in die Überschwenglichkeit der Naturschilderung verlor«. — Die
persische Poesie geht von einer religiösen Anregung aus. Das Heldenbuch von
Iran (Firdusi) gibt den Anfang der Poesie. Hafis bringt die Lyrik zur vollen
Blüte. — In der türkischen Poesie geht der religiöse Inhalt verloren.

Das Christentum meinte, die Poesie sei der Ausdruck des Bewußtseins der
Freiheit und des Glaubens an eine göttliche Offenbarung. Der menschliche Geist
hat sich nicht sofort in diese Aufgabe hineingefunden, da Sagen und Mythen ab-
gewiesen werden sollten. In die erste Periode der christlichen Poesie fällt das
Kirchenlied, welches der antiken Hymnenform entspricht. — Die lyrische und epische
Poesie der romanischen Völker entwickelte sich aus der Romanze. Petrarca war
 
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