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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 11.1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.3817#0341

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336 BESTECHUNGEN.

vollen Alternative verfällt, gegen die alle zu kämpfen haben, die weder eine intel-
lektualistische — besser: rein theoretische — noch eine bloß empiristische, inhalt-
liche Deutung des Anschauungselements zugeben: entweder Intellektualform oder
Ableitung von Empirischen, Inhaltlichen tertium non datur! Mit diesem tertium. non
datur hat man — trotz der Riesenarbeit eines Kant — in der Philosophie den Weg
in eine fruchtbare Erörterung des Raumproblems versperrt, und immer wieder sehen
wir, wie Denker bei der Erwägung dieser Probleme in ^lie Scylla oder in die Cha-
rybdis dieser beiden Denkanziehungspunkte hoffnungslos abgelenkt werden. So
auch der Verfasser des vorliegenden Buches, trotz mancher Ansätze zu einer er-
weiterten Auffassung. Auch die »Stufen« der reinen Anschauung, die sich zuerst
als Raumform im allgemeinen und als weitere Zusammenfassung, in die Einheit
der Gestalt, aufzubauen scheinen, werden gegen Ende des Buches als mehr neben-
sächliche, provisorisch mögliche Betrachtungsweise abgetan, und so stehen wir am
Schluß vor einem Trümmerhaufen, aus dem nur einige Gedankengebilde noch zu-
sammenhängend hervorragen. Es kommt mir so vor, als ob der Autor beim Nieder-
schreiben dieses Buches in einem sozusagen labilen Zustande des Denkens sich
noch befand, in dem ihm die intellektualistische Deutung von Raum und Geometrie
nicht mehr genügte (wie er denn mit großer Schärfe die geometrische und die
arithmetische Behandlungsweise in der Mathematik auseinanderhält und die intel-
lektuellen neben den »fremden« Prinzipien darin auseinanderlegt), und wo er doch
noch nicht auf neuem Boden einen festen Standpunkt gewonnen hat. Daher ist
auch der Faden des Buches immer wieder abgerissen: immer wieder geraten wir
in eine Sackgasse und machen sozusagen alle Irrfahrten des Verfassers mit, alle
Ansätze zur Erreichung eines eindeutigen Standpunktes. Aber durchweg ist ihm
das eigentlich Spezifische der reinen Anschauung ein »Fremdes«, und doch kann er
auf dem Boden, von dem aus gesehen es ein Fremdes ist, der rein intellektualistischen
Begründung des Raumes, nicht weilen. So ist denn auch das Resultat, das noch
aus den Trümmern gerettet wird, ein Kompromiß, und der Raum bestenfalls ein
»Mittelbegriff«, während im übrigen z. B. die Mathematik als Mittelgebiet, in dem
sich zwei Elemente treffen, dementsprechend eine relativ richtige und ergiebige
Einschätzung erhält. — Aus der zuvor erwähnten inhaltlichen Belastung des An-
schauungsbegriffes verstehen wir denn auch sein »definitives Ergebnis« (S. 165),
»der reine apriorische Raum ist seinem Wesen nach nicht selbst Anschauung; es
ist nur die eigentümliche, nun zu beschreibende notwendige Bezogenheit seines
Sinnes auf Anschauung, die ihn selbst als ,reine Anschauung' erscheinen läßt.«
Ergo: es gibt keine reine Anschauung, nur eine Bezogenheit des (im übrigen als
intellektuelle Relation gefaßten) Raumes auf eine empirische Anschauung. Wenn der
Autor vorschlägt, den Raum besser gar nicht in die Disjunktion anschaulich-unan-
schaulich zu bringen, so sehen wir, wie immer der Begriff der inhaltlichen
Anschauung ihm vorschwebt, und wie wenig einsichtig ist, daß eine Form der
Anschauung, die ein Anschauliches konstituiert, selbstredend nicht in dem Sinne
selbst »anschaulich« sein kann, wie das von ihr Konstituierte, deswegen aber doch
spezifische Forin der Anschauung oder reine Anschauung. Es scheint hier beim Be-
griff einer reinen Anschauung eine Falle der Phantasie vorzuliegen, die gerade die
weitest abstehenden intellektualistischen Denker nötigt, den konstituierenden
Formbegriff unter der Gestalt des durch ihn Konstituierten zu
denken, also Form und Inhalt zu vermengen. Kein Mensch wird das Prinzip der
Kausalität als ein Kausiertes betrachten; aber das Prinzip der Anschauung wird
immer wieder als Anschauliches vorgerückt, sowie man seine Sonderstruktur, die mit
»reiner Anschauung« sehr wohl bezeichnet werden kann, zu behaupten wagt. Es
 
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