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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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Meyer, Theodor A.: Erkenntnis und Poesie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0133
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ERKENNTNIS UND POESIE. 129

die geniale Kraft der Persönlichkeit zu empfinden und zu genießen,
die mit solcher Tiefe das innerste Wesen der Welt erschaut und ge-
staltet hat. Dann wird das Intellektuelle zurücktreten und die Diener-
rolle einnehmen, die ihm für den ästhetischen Genuß allein zukommt.
Es wird nur noch Gradmesser sein für die Lebenshöhe einer Persön-
lichkeit, die einen solchen Tiefblick der Erkenntnis getan hat.

Und ähnlich wird es auch bei den vielen Beobachtungen aus Leben
und Kunst sein, denen wir allenthalben in den großen Werken der
Dichtkunst begegnen. Im ersten Augenblick überrascht der Gedanken-
inhalt, sobald aber die Überraschung geschwunden ist, wird der Blick
frei für die Persönlichkeit, die aus ihnen aufleuchtet, und die Freude
an der Wahrheit der Beobachtung wird übertönt von der Freude an
der Geisteskraft der Persönlichkeit, von der die Sicherheit ihrer Wirk-
lichkeitsbeobachtung Zeugnis ablegt! Die Befriedigung über die Wahr-
heit des Gesagten wandelt sich in das Wohlgefallen an der (geistigen)
Schönheit des Redenden. Das aber ist das eigentliche Charakteristikum
der Erkenntnis in der Poesie: sie erreicht ihren ästhetischen Höhe-
punkt, wo der Dichter zum vates, zum Seher wird. Aber eben damit
droht sie die Grenze des Ästhetischen zu überschreiten, und nur eine
energische Konzentration des Blicks auf die Lebenshöhe der Persön-
lichkeit, die sich in der Erkenntnis bekundet, vermag den Leser wieder
zurückzurufen zur bildhaften Betrachtung, die das Wesen des Ästheti-
schen ausmacht.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XIV.
 
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