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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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Moser, Hans Joachim: Zur Methodik der musikalischen Geschichtschreibung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0135
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ZUR METHODIK DER MUSIKALISCHEN GESCHICHTSCHREIBUNG. 13]

übersehbaren, fast amorphen Anhäufung ungefähr gleichgeordneter
Zellen, statt sich in einem hochgegliederten Organismus rasch zurecht
zu finden, wo Wichtiges wichtig, Nebensächliches nebensächlich heißen
darf. Diese Verkennung des Wissenschaftszweckes wurzelt gleicher-
maßen in dem heutigen Drang, überall Individuen anzuerkennen, auch
dort, wo es sich meist bloß um Typenvertreter handelt, in dem bienen-
mäßigen Ehrgeiz nach Vollständigkeit und in dem Mangel an archi-
tektonischer Kraft zu vereinfachender Ideenbildung. Statt der geschil-
derten, naturkundlichen Diagnostik brauchen wir einen tüchtigen Zu-
schuß vom Tief schauen jenes Goethe, der es als seine Hauptaufgabe
bezeichnete, in den Dingen das Bindende, Bleibende zu erkennen, oder
wie Plato sagt, die Dinge zu Einheiten zusammenzuschauen.

Der musikgeschichtliche Darwinismus ist dem übertriebenen Linne-
ismus im Prinzip insofern nahe verwandt, als er an die Stelle eines
schier unendlichen Nebeneinanders ein fast endloses Nacheinander
setzt. Mit Maßen gehandhabt, ist er an sich selbstverständlich ebenso
berechtigt wie die erstgenannte Methode. Aber wie es im Begriff aller
»Geschichte« liegt % verführt er unschwer dazu, selbst unbezweifelbares
»Sein« in »Werden« aufzulösen und dem Auge damit die letzten Fest-
punkte zu rauben, an denen sich noch das Zeitmaß der geistigen
Bewegungen ablesen läßt. Diese Gefahr scheint mir neuerdings beson-
ders in Sachen der Tonpsychologie zu drohen, wo z. B. ungefähr alle
zu historischer Zeit in der europäischen Musikgeschichte auftretenden
musiktheoretischen Verschiedenheiten gern als geschichtliche Wand-
lungen im Empfinden ein und derselben, in sich ziemlich gleichartigen
Gesamtrasse aufgefaßt werden. Weit eher dürfte es sich um ein
bleibendes Nebeneinander mehrerer fast unwandelbarer psychologischer
Völkeranlagen handeln, deren jede nur zu anderer Zeit in den Vorder-
grund der musikalischen Ereignisse gezogen worden ist. Und das
bedeutet doch etwas fundamental Anderes! Wenn mir kürzlich ein
Tonpsychologe allen Ernstes versicherte, die von ihm experimentell
festgestellte Vorliebe der Japaner für Sekundenzusammenklänge stelle
ein »früheres Entwicklungsstadium des Konsonanzhörens« dar, so ist
das doch eine seltsame Ausgeburt der ewigen Evolutionsidee; —
beziehe ich mein Mehl nacheinander von verschiedenen Mühlen, so
kann ich doch nicht seine wechselnde Beschaffenheit auf eine »Ent-
wicklung« der Mühlengattung zurückführen, sondern höchstens auf die
Verschiedenartigkeit der einzelnen Mühlen untereinander! Psycholo-
gische Funktionen wandeln sich nicht so rasch wie zeitgeschichtliche



') Goethe sagt mit Recht, allzuvieles Fragen nach den Ursachen sei gefähr-
lich, man solle sich lieber an die Erscheinungen als gegebene Tatsachen halten.
 
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