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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0211
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BESPRECHUNGEN. 207

und Dorothea gibt üundolf eine primäre Freude am Bilden menschlicher Gestalten
zu. Wieweit bei der Darstellung dichterischer Charaktere Beobachtung mitwirkt,
wieweit künstlerische Werte auf sie zurückzuführen sind, und welchen Wert der
Dichter selbst auf diese Beobachtung legt, hat indessen nichts mit der Frage zu
tun, ob diese Gestalten eine Existenz führen, die von dem Bezüge auf das Erlebnis
des Dichters abgelöst ist. Eine solche Existenz, die nicht mehr ein Gleichnis für
die Konflikte der dichterischen Persönlichkeit ist und auch kaum erschöpft wird
durch die Auffassung symbolischer Repräsentation von Zeitaltern, Nationalcharak-
teren oder Menschheitstypen, haben die Rastignac, Dombey, Raskolnikoff, Löfborg,
Solneß, wie Hamlet und Don Quichotte, und Werther, Dorothea, die Gestalten der
Wahlverwandtschaften, von denen des Faust zu schweigen, nicht minder als Wilhelm
und Philine.

Wie der Dichter bei der Bewältigung von Urerlebnis und Bildungserlebnis zu
verschiedenen Stoffen greift, den einen bevorzugt, von dem andern abläßt, ist ein
Problem, das in den weiten Kreis der Fragen hineingreift, die sich an den Frag-
mentenreichtum des Goethischen Schaffens knüpfen. Gundolf glaubt als ein Gesetz
des Ausleseprozesses annehmen zu dürfen, daß, je stärker und nachhaltiger ein
Urerlebnis sei, um so mehr Bildungselemente das ihm gemäßeste Symbol an sich
ziehe. Gleichsam als ein stärkerer Magnet oder als ein Baum von stärkerem Wachs-
tum entzieht er den geplanten Motiven, worin ein minder kräftiges Urerlebnis sich
ausdrücken möchte, die Bildungssubstanzen, so daß sie verkümmern. So hat die
Iphigenie der Nausikaa Saft und Luft entzogen. Noch öfter zeigt es sich, daß das
Bildungserlebnis, das Milieu, die Atmosphäre, das aus dem Bereich der Bildung
entnommene Motiv nicht ergiebig genug war, um der ganzen Stärke des Urerleb-
nisses zu genügen und zum Symbol auszureichen. So haben Faust oder Götz den
minder adäquaten Sinnbildern des Titanismus, Prometheus, Mahomet, Cäsar Blut
und Luft entzogen, so ist Elpenor neben Tasso und Iphigenie verkümmert. Wenn
auch hier nicht immer klar zwischen gestalteten und ungestalteten Stoffen geschieden
wird und zuweilen ex eventu prophezeit wird, so kann der fruchtbare Kern dieser
Anschauung nicht übersehen werden. Erleuchtende Parallelen ließen sich aus
einem Blick auf Kleists Arbeit am Guiscard und an der Penthesilea gewinnen;
weniger und eher als Gegenbeispiel aus einer Betrachtung von Schillers oder
Hebbels Fragmenten. Übrigens ist gerade auf Grund solcher Untersuchungen sehr
wohl, was Gundolf bestreitet, ein Werden der Gestalten zu beobachten, wie bei
allen Dichtern, die es lieben, Charaktere gleicher Anlage in verschiedenen Werken
und Altersperioden mehrmals in neuem Wurf zu gestalten, besonders Ibsen und
Dostojewski]. Dagegen bleibt hier die sichere Tatsache der Kontamination ver-
schiedener Modelle, Erlebnisse, Gestalten unberücksichtigt, und auch auf das, was
Dilthey Zerlegung der eigenen Heterogeneität nennt, fällt nur ein Seitenlicht. Daß
in Goethes Altersdichtung das Einzelerlebnis überhaupt nicht mehr die Rolle spielt,
wie in den früheren Perioden, ist Gundolf nicht entgangen. Das Einzelerlebnis, in
der Zeit des Werther, auch noch der Iphigenie, Träger und Schöpfer der Produktion,
geht dann unter in einer allgemeinen großen Gestimmtheit, und es wäre noch die
Frage zu beantworten, ob diese allgemeine Gestimmtheit soviel Tragkraft besitzt
wie das einzelne Erlebnis. Die meisten werden auch die bloße Möglichkeit ver-
neinen, und es ist ja leicht, angesichts eines Produktes, das eine andere Entschei-
dung nahelegt, ein Einzelerlebnis vorauszusetzen.

Mittels einer Auffassungsweise, die durch die hier vorgeführten Grundbegriffe
charakterisiert wird, ist es Gundolf gelungen, nicht nur den Entwicklungsgang des
Goethischen Geistes und die besonderen Zustände, die diese Entwicklung repräsen-
 
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