Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

DOI Artikel:
Adler, Leo: Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit in der Architektur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0291
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BEMERKUNGEN. 287

genüg zu treffen; was heißt hier Übereinstimmung? Sie kann quantitativer, quali-
tativer, formaler oder inhaltlicher Art sein; sie kann die Symmetrie umfassen so gut
wie das bloße Ebenmaß, das ästhetische Gleichgewicht der Massen. Wir meinen viel-
mehr: der Regelmäßigkeit liegt der Funktionsbegriff zugrunde, Regelmäßigkeit ist
der sinnfällige Ausdruck der Funktion. Das aber heißt: Jedem gegebenen Werte
öder Zustand von A entsprechen bei Regelmäßigkeit ganz bestimmte Werte oder
Zustände von B, C usw., und ausschließlich diese! »Demgemäß schließt der kleinste
Teil dieser (regelmäßigen) Gebilde das Ganze in sich ').« Ändert sich z. B. A in A',
So ist die Regelmäßigkeit des Gebildes solange aufgehoben, bis alle anderen Be-
standteile die zu A' gehörigen Werte B', C' usw. angenommen haben. Hat diese
Umwertung einmal stattgefunden, so ist die Regelmäßigkeit sofort wieder hergestellt.
Es ergibt sich die wichtige Folge: Ist ein Bruchteil des regelmäßigen Gebildes,
z. B. eines regelmäßig gestalteten Bauwerkes gegeben, so läßt sich in der Tat
das Ganze mit Sicherheit daraus rekonstruieren2).

Der Regelmäßigkeit steht nun die Gesetzmäßigkeit gegenüber. Um ein an-
schauliches Beispiel zu wählen: Die mathematische Parabel ist eine regelmäßige
Kurve, sinnfälliger Ausdruck der analytischen Gleichung y2 = 2px. Wird diese
mathematische Kurve in die Wirklichkeit des lufterfüllten Raumes übertragen, so
wird sie unter dem Einfluß verschiedener Naturkräfte (hierin also pflichten wir
Schmarsow bei) zu der gesetzmäßigen Wurfparabel, der ballistischen Kurve. Er-
setzen wir den vieldeutigen Begriff »Naturkräfte« durch den eindeutigen der »Ener-
gien«, so erkennen wir, daß die Gesetzmäßigkeit die sinnliche Erscheinungs-
form der Energien ist, wie die Regelmäßigkeit die der Funktion. Wir verstehen
hierbei unter Energie alles »was aus Arbeit entsteht oder was sich in (mechanische)
Arbeit verwandeln kann«3). Während nun die Energien, unter deren Einfluß ein
gesetzmäßiges Gebilde entsteht, sowohl innere als auch ursächlich verknüpfte äußere
Kräfte sein können, ist die Regelmäßigkeit ausschließlich Ausdruck von Funktionen,
dynamisch gesprochen Ausdruck innerer Kräfte allein. Ein gegebener Teil eines
gesetzmäßigen Ganzen läßt infolge der möglichen Einwirkung äußerer Energien
einen unfehlbaren Schluß auf das Ganze nicht zu, wie es bei dem regelmäßigen
Gebilde der Fall ist.

Mit der Zuordnung der Regelmäßigkeit zur Funktion, der Gesetzmäßigkeit
zur Energie erscheint in der Tat ein wesentliches Kennzeichen dieser beiden Begriffe
gegeben zu sein, ein im oben bezeichneten Sinne objektives Merkmal, das un-
abhängig von dem Standpunkt bloß subjektiver Stellungnahme ist.

War soweit die begriffliche Unterscheidung von Regelmäßigkeit und Gesetz-
mäßigkeit noch ziemlich leicht zu gewinnen, so würden die Schwierigkeiten ins
Unendliche wachsen, wollten wir die Anwendung dieser Begriffe auf Erscheinungen
des Lebens selbst vornehmen. Denn in den Lebenserscheinungen herrscht weder
die Funktion noch die Energie allein, sondern das große Rätsel Leben! Das zu
untersuchen ist nicht unseres Amtes, da wir uns auf bauhistorischem Boden be-
wegen. Der Vollständigkeit halber sei nur darauf hingewiesen, daß das Ringen
um die hier in Rede stehenden Begriffsinhalte im wesentlichen den methodologischen

') Lipps, a. a. O. S. 251.

2) Derartige Fälle sind häufig bei archäologischen Rekonstruktionen; ein her-
vorstechendes Beispiel die Auffindung der Geisonecke vom Tempel C zu Selinunt.
Vgl. Koldewey-Puchstein, Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sizilien,
Berlin 1899.

') Graetz, Die Physik und ihre Anwendungen, Leipzig 1917, S. 32.
 
Annotationen