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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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Kreis, Friedrich: Die Begrenzung von Epos und Drama in der Theorie Otto Ludwigs
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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0300
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2g6 BEMERKUNGEN.

I Ganzen bedingte, wird das epische Interesse eingenommen von der Mannigfaltigkeit
»der Begebenheiten des Lebens. In dieser Region bekommen daher auch jene oben
erwähnten im populären Sinne des Wortes »tragischen« Ereignisse eine künstlerische
Bedeutung. In der Bewegtheit oder Zuständlichkeit des Lebens selbst stehen die
Romanfiguren mitten inne; Milieu, Sitte, Zeitumstände drücken den Menschen ihren
Stempel auf; nicht der freie Mensch gefällt uns im Romane, sondern der Mensch
in seiner Determiniertheit. Es findet zwar auch ein Kampf im Roman statt, aber
es interessiert uns nicht seine Bedeutung für das Schicksal eines einzelnen Menschen,
sondern der Kampf selbst, das Spiel der Ereignisse, die alle eingereiht sind in die
Kette des kausalen Weltgeschehens, das ist der Gegenstand unseres ästhetischen
Wohlgefallens, den wir als die epische Breite des Romans bezeichnen. So dehnt
sich die inhaltliche Sphäre des Epischen gegenüber dem Drama fast ins Unendliche
aus. Alles was der Schatz der Sprache nur immer berichten kann, mag episches
Interesse für sich in Anspruch nehmen. Daher hat denn auch der Zufall, die nicht
erkannte oder nicht motivierte Notwendigkeit, im Epos seine Bedeutung. Ebenso
kann die Natur in ihren Wirkungen auf dem Kampfplatz des epischen Geschehens
erscheinen, denn der Schauplatz der Geschehnisse ist nicht wie im Drama das Innere
eines Menschen, sondern die gesamte äußere und innere Welt. Was den Roman
dem Drama nähert, ist das Moment der Spannung; doch ist diese im Roman wesent-
lich verschieden von der dramatischen Spannung. Im Drama ist die Spannung fest
bestimmt durch das Interesse an dem tragischen Charakter; im Roman ist sie viel
allgemeiner und weniger eine Teilnahme an dem Geschick eines Helden als eine
Spannung der Neugierde auf Begebenheiten. Diese Unbestimmtheit der Spannung
im Roman bedingt das Wohlgefallen an dem unaufhörlich wechselnden Spiel der
Erscheinungen und ist eine Voraussetzung für das Verständnis einer Fülle von Kunst-
griffen, die dem Romane gegenüber dem Drama zu eigen sind.
 
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