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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0315
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BESPRECHUNGEN. 311

nicht an der ruhigen, schildernden Einzelheit, sondern nur an der gefühlsbetontem
Vereinfachungen, Wiederholungen zeigen an, daß alles nach dein Willen des Er->
zählers, nicht nach den Gesetzen des Lebens abläuft. Die Darstellung ist rein episch
explizierend. Prophezeiungen, Warnungen und Verbote erleichtern, als Dispositionen
gleichsam, die Auffassung. Der gedankliche Verlauf ist immer in anschauliche Vorr
gänge umgesetzt, emotionale Erlebnisse werden durch ihre äußeren Kennzeichen
festgehalten. Sehr hübsch sagt die Verfasserin: es heißt nicht, das kleine Mädchen
war traurig, sondern: es weinte. — Nicht das kombinatorische Denken, sondern
die Analogiebildung, deren Bedeutung für das volkstümliche Denken W. Stern dar-
getan hat, charakterisiert die kindliche Phantasie. Sie kennt keine Ruhe. Alles
wird in Sukzession aufgelöst. Das Umschlagen der Situation, der szenische Wechsel,
bildet den Kern jeder echten Märchenhandlung. Krasse Proporlionsunterschiede
(Riesen und Zwerge) sind für Kinder offenbar lustbetont.

Die Kritik der vorliegenden Arbeit muß vor allem betonen, daß das Thema
weit mehr Schwierigkeiten enthält, als die Verfasserin angenommen zu haben
scheint. Der an sich schöne und einleuchtende Gedanke, vom Märchen auf. die
Phantasie der Kinder zu schließen, erweckt bei näherer Überlegung doch einige
Bedenken. So wie uns das Märchen der Brüder Grimm vorliegt, ist es eben
doch ein Kunstwerk, so gut wie die Gesänge Homers, und bevor man aus diesem
Kunstwerk Schlüsse auf den Urheber ziehen darf, müßte man einmal die Kunst-
form des Märchens vorurteilslos untersuchen. (Über das den Kern der Schwierig-
keiten bildende Problem des Verhältnisses von Volksseele und Kinderseele ist die
Verfasserin fast ganz hinweggegangen.) Man würde aber das Märchen nicht auf
seine Form hin analysieren können, ohne zu fragen, ob sich nicht ähnliche Form-
eigentümlichkeiten auch in anderen Dokumenten finden lassen. Da wäre zunächst
die Sage heranzuziehen, mit der ja das Märchen eng verwandt ist. Aber noch
ganz andere Produkte kämen in Betracht: ein Teil der sogenannten Unterhaltungs-
romane und der ganze Volksroman. In der sogenannten Schundliteratur, die in
Wahrheit die Literatur des Volkes ist, wie das Märchen die des Kindes, finden sich
fast alle wesentlichen Züge des Märchens wieder: Vereinfachung, Übertreibung,
Gegenüberstellung von Extremen, plötzliches Umschlagen der Situation, karge Schil-
derung der Umwelt, das gute Ende usw. Die »Unreife«, den Wunsch des Hörers
für die Entwicklung der Handlung entscheidend werden zu lassen, die die Ver-
fasserin eine einzig im Märchen zu beobachtende Eigenheit der Darstellungstechnik
nennt, ist in Wahrheit eine charakteristische Eigenschaft der erwähnten Volksliteratur.
Wie viele Frauen lesen noch heute kein Buch, von dem sie sich nicht vorher über-
zeugt haben (ganz wie jenes Bübchen, von dem die Verfasserin erzählt), daß
es nicht traurig ausgeht, d. h. daß sie sich kriegen? Und wie viele Romane
werden mit Rücksicht auf diesen Wunsch geschrieben? —Nun enthält der Unter-
haltungsroman und der Volksroman reichlich kombinatorisches Denken, eine ganz
andere Umwelt als das Märchen usw. Er gehört mehr zur Literatur der auf das
Märchenalter folgenden Lebensepoche. Aber in dieser erhält sich eben das
Märchenelement immer noch in gewissem Grade. Die eigentlich märchenhaften
Züge sind aber aus einem ganzen Geflecht erst herauszulösen und dem Märchen
nicht so ohne weiteres zu entnehmen. Erst nach der Untersuchung des Märchens
auf seine spezifischen Märchenzüge hin könnte man daran gehen, die Beziehung
zur Kindesphantasie festzustellen, obgleich auch dann immer noch die Hauptschwierig-
keit übrig bliebe. Die Phantasie des Kindes ist die gesuchte Unbekannte. Wäre
das Märchen ein reines Produkt dieser Phantasie, so wäre die Gleichung leicht.
In Wirklichkeit aber ist das Märchen zwar für die Kinder, aber nicht von Kindern
 
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