Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

DOI Artikel:
Viëtor, Karl: Der Bau der Gedichte Hölderlins
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0359
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER BAU DER GEDICHTE HÖLDERLINS; 355

heiten. Für die zeitgenössische Philosophie waren es im wesentlichen
diese: der glück- und leidlosen, weil ungeistigen Natur, wird der Geist
als Gegenpart gegenüber gestellt, der im Gegensatz leidempfindlich ist,
und der es in der sittlich-religiösen Freiheit zu einer Synthese von
Natur und Geist bringen muß. Das war auch für Hölderlin der Kon-
flikt und die aufgegebene Lösung1). Natur war ihm im Grunde alles
außer ihm Seiende. Er liebte sie, verehrte sie mit religiöser Scheu;
aber er empfand auch in allen Erlebnissen den quälenden Zwiespalt
zwischen sich und ihr, den zu lösen ein schon einmal Geleistetes er-
reichen hieß: das griechische Menschheitsideal. Für ihn, wie für
Schiller war hier in Griechenland bei völliger Synthese von Natur und
Geist eine bisher unerhörte und späterhin verlorene Totalität erreicht
worden2). Die Gegenwart ist durch diesen Zwiespalt zerrissen und
darum Chaos, während Griechenland alle Gaben der göttlichen Har-
monie hatte. Der immer mehr mit seiner Zeit und der vaterländischen
Gemeinschaft empfindende Dichter versucht stets von neuem zu einer
Synthese zu gelangen zwischen diesen beiden Erlebnissen, die sich
doch aufeinanderhin zu bewegen scheinen. Meist scheint die Lösung
nur individuell durch den Enthusiasmus möglich zu sein, der sich
eine Vereinigung beider in goldener Zukunft ausmalt. Aber abgesehen
von dem wechselnden Ideengehalt nimmt Hölderlins Wesen fast in
jedem Gedicht die gleiche dreiteilige Bewegung, welche ebenso, wie
aus der gedanklichen Analyse, aus den formalen Trägern, hier aus
dem Bau, sichtbar wird; und so erkennen läßt, daß der charakteristische
dreiteilige Ablauf seiner lyrischen Gedichte nicht die bewußte Kon-
struktion eines intellektualistischen Geistes ist (wie etwa bei Lessing oder
gelegentlich bei Schiller); sondern: daß aus einem stets gleich-
artigen Erlebnisse, dem der Gegensätzlichkeit von Na-
tur und Geist, Chaos und Form und ihrer Synthese als
einer ewigen Aufgabe seines Wesens, ihm die spontane
Nötigung zu einer derartigen dichterischen Form immer
wieder erwuchs.

An dieser Einsicht wird der notwendige Zusammenhang der Ge-
dichtform Hölderlins mit seinem individuellen Wesen besonders
deutlich.

') Vgl. dazu Zinkernagel: Entwicklungsgeschichte von Hölderlins Hyperion,
Straßburg 1907, S. 202; vor allem S. 205 f.

') Über diese Idee im Hyperion, vgl. Zinkernagel, a. a. O. S. 199.
 
Annotationen