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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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Sieburg, Friedrich: Die Grade der lyrischen Formung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0361
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DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 357

unterschätzt werden. Freilich, die große Gestalt, das große Erlebnis
werden wir in dieser Zeit vergebens suchen. Die beiden wichtigsten
Repräsentanten dieses Bildungszeitalters waren nicht von innen heraus
durch ein Erlebnis in Bewegung gesetzt, das sie sich zu entwickeln
zwang. Ihnen genügte es, nach außen zu greifen und einzubeziehen,
was schon geformt bei den Fremden vorlag, zu ordnen, was nach
dem Verlust des lebendigen Mittelpunktes durcheinander wirbelte. Sie
hatten es nicht mit dem Leben, sondern mit der Literatur zu tun, sie
suchten nicht das Lebendige, sondern die Regel. Opitz und Gott-
sched waren keine Gestalten, sondern lediglich Köpfe, die nicht durch
Begeisterung, sondern durch Vernunft bewegt wurden. Verstreute
einsame Poeten, Paulus Gerhardt, Flemming, Angelus Silesius, Günther,
die einen unmittelbaren, seelischen Kontakt mit dem Leben hatten,
konnten keine Repräsentanten werden und blieben Einzelfälle. Zwi-
schen Seele und Welt stand bergehoch ein Wust von halbfertiger
Bildung, nachbarlichem Einfluß, barocken Ornamenten und rationali-
stischen Vorstellungen. Kein dichterischer Charakter stand auf, der,
vom Erlebnis erschüttert, Kraft gehabt hätte, diesen Wust zu ver-
wandeln und die Welt zu formen. Was blieb übrig, als diese Lebens-
und Bildungswildnisse zu ordnen, und durch Aufstellung von Gesetz,
Regel und Muster eine Beziehung zu gewinnen. So konnte denn
auch mangels des Grunderlebnisses keine lebendige Sprachform ge-
boren werden. Aber an Stelle organischen Wachstums traten große
mechanische Gewinne. Die Bildungssprache gewann durch Begren-
zung, Ordnung und Vergleich an Ausdrucksfähigkeit, Reinheit und
Biegsamkeit im reichsten Maße. Freilich, das Göttliche, das nicht da
war, konnte durch keine noch so gründliche, kritische Arbeit aus dem
Vorhandenen abstrahiert werden, und so blieb die Entwicklung der
Sprache im Rahmen des Rhetorischen, wie die ganze mühevoll ge-
schaffene Literatur nur Allegorie blieb und ein relatives Dasein hatte.
Erst bei Klopstock bricht das Erlebnis durch, das ihn befähigte, die
rhetorische Sprache in eine lebendig dichterische zu verwandeln. Dia-
lektisch angebahnt durch Bodmer und Breitinger, setzte sein Auftreten
die Begeisterung, die dichterische Bewegung, das Weltgefühl wieder
in ihr ewiges Recht ein. Sein religiöses Seelenerlebnis einerseits und
sein antikes Formerlebnis anderseits befruchtete das Wort mit leben-
digem Feuer. Mit Klopstock beginnt die neue Form. Er erschuf den
dichterischen Sprachkörper; er, dem die Antike nicht ein Bildungs-
anhängsel, sondern ein Element seines Wesens und Erlebens war,
machte die deutsche Sprache fähig, organisches Wachstum zu treiben,
Verkörperung und Wesen zu leisten und Gebilde ewiger Geltung
hervorzubringen. Er hinterließ ein sprachliches Niveau, das noch heute
 
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