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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0414
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410 BESPRECHUNGEN.

Gesamtcharakters dieser Kunst gehabt habe, bemängelt, daß diese Auffassung phan-
tastisch und einseitig aus geistigen Gegenwartsströmungen entstand, so ist damit
auch eine Gefahr des heutigen Expressionismus bezeichnet, der zugleich doch auch
mancherlei Verwandtschaft mit dem Barock zeigt. Dvorak kritisiert freilich selber
Worringer, den der Expressionismus inzwischen zu einem seiner Kronzeugen ge-
macht hat: In willkürlicher Beschränkung auf einen sehr charakteristischen Zug der
mittelalterlichen Kunst habe er einen völkerpsychologischen Begriff des gotischen
rormwillens zugrunde gelegt, der wichtige Erscheinungen unserem Verständnis
näherbringe, doch dem vielfältigen geschichtlichen Sachverhalt gegenüber noch phan-
tastischer sei als die abstrakten Stilbegriffe der Romantiker. (Man könnte die geistigen
Verfahrungsweisen, die hier Worringer vorgehalten werden, ganz wohl als expressio-
nistisch bezeichnen.) Auch Dvorak selber geht freilich von den allgemeinen geistigen
Grundlagen der mittelalterlichen Kunst aus, darin mit Worringer einig und sich von
Wölfflins Art unterscheidend. Ich weiß nicht, glaube aber, daß ein bewußter Bezug
auf Wölfflin vorhanden ist, wenn der Verfasser sagt: Die Kunstgeschichte könne
gewiß das Wichtigste zur Erklärung der geistigen Kultur des Mittelalters leisten, wenn
sie ihre eigensten Aufgaben erfülle und künstlerische Bestrebungen und Ausdrucks-
mittel in ihrer immanenten und autonomen Entwicklung beobachte: »Das besagt
aber durchaus nicht, daß man sich im stolzen Gefühl einer Lösung der kunstge-
schichtlichen Probleme im eigenen Wirkungskreise, wie sie in der letzten Zeit zu-
weilen verlangt wurde, Erkenntnissen verschließen müßte, die zur Beurteilung der
allgemeinen geistigen Situation des Mittelalters, sei es aus der fortschreitenden Er-
forschung anderer Gebiete des mittelalterlichen Geisteslebens, sei es aus dessen ur-
sprünglichen literarischen Denkmälern, herangezogen werden können.« Das ist un-
anfechtbar, nur sagt es natürlich nichts gegen Wölfflins Methoden und Ziele. Ich
möchte dies etwas näher dartun.

Kunst ist nur »vonaußen« her zu verstehen; denn nur die Beziehung der Form
zum Ausdruck, die vom Äußeren her das Innere erschließt, ist eindeutig, nicht aber
die umgekehrte. Der Gehalt des Kunstwerks ist ja überhaupt nicht vor dem Werke da,
sondern entwickelt sich erst im Werden seiner Form; was vorher in anderer geistiger
Form vorhanden war, ist etwas anderes; die Form kommt nicht wie ein Gefäß da-
zu, sondern entfaltet sich in der Selbstentwickelung des Gehaltes zu immer größerer
Bestimmtheit. Es ist nie vorauszusagen, noch hinterher zu beweisen, daß bei einem
inhaltlichen Tatbestand gerade diese Form entstehen mußte, die er angenommen hat;
dagegen ist mit wissenschaftlicher Sicherheit zu erklären, daß umgekehrt die Form
gerade so und nicht anders wirkt, daß sie solchen Gehalt oder Ausdruck enthält.
Zwingend ist daher auch nur der Weg des unmittelbaren künstlerischen Er-
lebens, nicht der kulturhistorisch konstruierenden Wissenschaft. Zum Innern, zur
Seele des Kunstwerkes dringt man lediglich durch die Sinne. Es ist Einbildung zu
glauben, man könne, indem man die Sinne überspringt, tiefer ins Innere gelangen.
So las ich kürzlich diese Sätze: »Aus allen Kunstwerken weist ein geheimer unter-
irdischer Kanal zu dem Allgemeingeisligen, aus dem sie ihren Ursprung nahmen.
Der Künstler ist nur der Individualisator dieser breiteren seelischen, geistigen Grund-
lagen. Wenn es uns daher möglich wäre, von diesen aus dem geistigen Kanal
nachfolgend in das Werk einzudringen, so würde man, von innen her kommend (?),
gleichsam von selbst zum Verständnis des Ausdrucks gelangen.« (Kunstwart,
zweites Märzh. 1919, S. 151.) Das ist ein Irrglaube. Die Feststellung, daß der Künstler
nur der Individualisator allgemeiner seelischer, geistiger Kräfte sei, ist schon
unglücklich ausgedrückt, denn seine Individualität und des Werkes Einzigkeit wird
damit nicht erklärt. Und wenn man an Kunstwerke so herantritt, wird nicht nur der
 
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