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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 14.1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.3620#0428
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424 BESPRECHUNGEN.

zn ihrer räumlichen Umgebung. Daß die Gemälde wie eine Flächendekoration auf
Wiedergabe der räumlichen Tiefe verzichten* soll als absichtliche Verneinung des
wirklichen Raumes besonders geistig wirken. Ob man sich aber wirklich »bemühte,
jede räumliche Vertiefung des Bildes nach Möglichkeit auszuschalten«? Die Er-
klärung aus einem Mangel an Können wird ausdrücklich abgelehnt, und es ist ja
auch sicher nicht bloßes Nichtkönnen gewesen, was dazu geführt hat, obwohl die
Perspektive erst später, in der beginnenden Neuzeit, entdeckt und mit viel Fleiß
ausgebaut werden mußte. Daß man sie früher gefunden hätte, wenn man es ge-
wollt hätte, läßt sich nicht beweisen; vielleicht hat man es nicht gewollt, aber auch
die Folge eines Nichtwollens ist eben ein Nichtkönnen. Gewiß ist Mangel an
Können keine letzte Erklärung, weil man zweifellos zu verschiedenen Zeiten manches
gekonnt hätte, wenn man es rechtzeitig erstrebt und sich darin geschult hätte; aber
daß man unter dieser Bedingung zu allen Zeiten alles gekonnt hätte, ist ein
ungeschichtlicher Irrglaube, dem diejenigen nicht fern sind, die überhaupt nicht
mehr von Können und Nichtkönnen reden mögen. Heut erscheint manchen Leuten
schon die Annahme, daß ein Naturvolk irgendetwas nicht gekonnt habe, wie eine
Beleidigung. Das »Kunstwollen« Riegls hat sonderbare Blüten getrieben, indem es
absolut und in einem mystischen Sinne frei von historischen Bedingtheiten wurde,
wie das zu gewissen geistigen Neigungen unserer Zeit paßt. In Wahrheit ist auch
dieses Wollen nicht immer eine letzte Erklärung. Denn man kann eben nicht zu
allen Zeiten alles wollen, und hinter dieser Einsicht beginnen neue Probleme. Un-
leugbar hat man es sich lange viel zu bequem gemacht mit der Erklärung früherer
Kunststufen aus einem Mangel an Können, jetzt aber verfällt man bisweilen in das
umgekehrte Extrem, wie ja auch in unserer zeitgenössischen Kunst das Können
ziemlich gering geachtet und dementsprechend viel Nichtkönnen an ihr beteiligt ist.
Heute sagt man einfach: was die Leute nicht können, das wollen sie nicht; und von
dem auf solche Weise gefundenen »Kunstwqllen« aus stellt man dann fest, daß sie
alles erreicht haben, was sie wollten^ Und in der Kunstgeschichte wird nicht nur alles,
was vielleicht als Mangel erscheinen könnte, als gewollte Beschränkung angesehen,
sondern auch noch mit tiefen Geheimnissen erfüllt. So werden die Unterschiede
der Raumdarstellung, die einst Riegl und Wickhoff am Übergang von der Spät-
antike zur frühchristlichen Kunst entwickelten, und die dann Schmarsow in seinen
»Grundbegriffen« mit psychologischem Scharf- und Tiefblick durchleuchtet hat, jetzt
nicht psychologisch, sondern spekulativ, weniger kunstwissenschaftlich als kunst-
philosophisch erklärt; nicht möglichst einfach, sondern möglichst metaphysisch,
nicht durch Zurückführung auf elementare Erlebnisse, sondern im Gegenteil durch
Anknüpfung an möglichst komplizierte geistige Erscheinungen; nicht gebärdenhaft
vom lebendigen Menschen aus, der Leib und Seele und beides in einem ist, son-
dern einseitig intellektualistisch; nicht ausdrucksmäßig, sondern expressionistisch,
was keineswegs dasselbe ist. Wenn z. B. von dem neutralen Raumhintergrund der
mittelalterlichen Malerei die Rede ist, so soll der Raum nach Dvorak »eine ideale
Hintergrundsfolie, der Ausdruck einer Tiefenorientierung sein, die als eine abstrakte
Tiefenbewegung im unbegrenzten Raum erscheint, in welchen die Figuren ein-
gestellt werden, um, indem sie die Bewegung für einen Augenblick hemmen, in
einer traumhaft unkörperlich lebendigen Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit den Blick
des Beschauers zu fesseln,« oder die abstrakte räumliche Umgebung der Figuren
soll dienen, :>alles am körperlichen Dasein und Sinnenleben Haftende der neuen
psychozentrischen Auffassung unterzuordnen, die, von dem Glauben an einen über-
sinnlichen Zusammenhang der Dinge ausgehend, auch in der Kunst nach abstrakter
und supranaturaler Gesetzmäßigkeit und Bedeutung auf antimateriellen Grundlagen
 
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