DIE GRADE DER LYRISCHEN FORMUNG. 359
hinaus wirken hieße aus der Kunst ein Spiel, aus der Notwendigkeit
eine Not oder aus der Freiheit eine Willkür machen. Man muß sich
hüten, in diesen Gedankenkreis einen psychologischen Begriff hinein-
zutragen, die Verwirrung nähme sonst kein Ende. Die Begriffe des
Materials (d. h. des künstlerischen Elementes) und der Geformtheit
(d. h. des geformten Elementes) müssen genügen. Das Wesen des
Gedichtes also definiert sich folgendermaßen: das Wort ist das Material
des Dichterischen, d. h. das dichterische Element, seine Technik ist
die Syntax.
Das Gedicht ist die Gestaltung des Wortes, also nicht etwa des
Erlebnisses. Die Gestaltung eines Erlebnisses setzt immer eine Distanz
voraus zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen Seele und
Erlebnis, zwischen Wille und Welt. Diese Distanz besteht aber beim
lyrischen Dichter nicht. Dem Lyriker eignet die glücklichste und
primitivste Form des Schaffenden, schaltet doch seine Kunst von
vornherein jeden Abstand zum Erlebnis aus. Das Chaos als Objekt
existiert für ihn nicht. Der Lyriker ist an sich formhaft, sein seelischer
Zustand ist bereits geformt, seine Bereitschaft fällt mit dem Besitz
zusammen. Die ungeheure Arbeit, sich der Welt zu bemächtigen oder
die Welt zu durchdringen, die noch Dante und Shakespeare leisten
mußten, fällt für ihn fort. Er spürt die Welt nur, insofern sie in ihm
ist oder als Anstoß auftritt, um sein Ich in Vibration zu versetzen.
Wieviel von der Welt in ihm ist, das bestimmt seinen Wert, je mehr
er draußen fühlt als Problem, als Ungeformtes, als Lebensrätsel, als
Frage nach Gott, das bestimmt den Grad seiner inneren Geformtheit.
Deshalb blieb es erst dem Lyriker vorbehalten, den vom Altertum bis
zur Renaissance gehenden Zwiespalt zwischen Erlebnis und Bild
dadurch aufzuheben, daß er beides gleich setzte. Während dort noch
ausschließlich das Gewordene, das Sein in Frage stand, wird hier das
Werden, die Bewegung selbst wesentlich. Von eigentlicher Lyrik kann
man deshalb auch erst mit dem Abschluß des Rokoko sprechen. Dort
erst wurde es dem Dichter möglich, sein bewegtes Ich zum Mittel-
punkt zu machen, da ja mit der endgültigen Lockerung des gefügten
Kultur- und Weltbildes das Gewordene wieder zum Werden, das Sein
wieder zur Bewegung wurde. Die erst gebundene (Renaissance), dann
erstarrte (Rokoko) Welt löste sich wieder auf, im Bewußtsein strömte
die Welt wieder in alter Unbegrenztheit im gleichen Fluß wie das
bewegte Ich. Nun auch konnte die Sprache wieder im eigenen Geiste,
der ja die Bewegung ist, tönen. Keine Welt drängte sich mehr da-
zwischen und machte Bilder zu ihrer Bewältigung notwendig *). Lyrik
') Die eigentliche lyrische Bilderwelt hat anderen Sinn. Da bedeutet das Bild
hinaus wirken hieße aus der Kunst ein Spiel, aus der Notwendigkeit
eine Not oder aus der Freiheit eine Willkür machen. Man muß sich
hüten, in diesen Gedankenkreis einen psychologischen Begriff hinein-
zutragen, die Verwirrung nähme sonst kein Ende. Die Begriffe des
Materials (d. h. des künstlerischen Elementes) und der Geformtheit
(d. h. des geformten Elementes) müssen genügen. Das Wesen des
Gedichtes also definiert sich folgendermaßen: das Wort ist das Material
des Dichterischen, d. h. das dichterische Element, seine Technik ist
die Syntax.
Das Gedicht ist die Gestaltung des Wortes, also nicht etwa des
Erlebnisses. Die Gestaltung eines Erlebnisses setzt immer eine Distanz
voraus zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen Seele und
Erlebnis, zwischen Wille und Welt. Diese Distanz besteht aber beim
lyrischen Dichter nicht. Dem Lyriker eignet die glücklichste und
primitivste Form des Schaffenden, schaltet doch seine Kunst von
vornherein jeden Abstand zum Erlebnis aus. Das Chaos als Objekt
existiert für ihn nicht. Der Lyriker ist an sich formhaft, sein seelischer
Zustand ist bereits geformt, seine Bereitschaft fällt mit dem Besitz
zusammen. Die ungeheure Arbeit, sich der Welt zu bemächtigen oder
die Welt zu durchdringen, die noch Dante und Shakespeare leisten
mußten, fällt für ihn fort. Er spürt die Welt nur, insofern sie in ihm
ist oder als Anstoß auftritt, um sein Ich in Vibration zu versetzen.
Wieviel von der Welt in ihm ist, das bestimmt seinen Wert, je mehr
er draußen fühlt als Problem, als Ungeformtes, als Lebensrätsel, als
Frage nach Gott, das bestimmt den Grad seiner inneren Geformtheit.
Deshalb blieb es erst dem Lyriker vorbehalten, den vom Altertum bis
zur Renaissance gehenden Zwiespalt zwischen Erlebnis und Bild
dadurch aufzuheben, daß er beides gleich setzte. Während dort noch
ausschließlich das Gewordene, das Sein in Frage stand, wird hier das
Werden, die Bewegung selbst wesentlich. Von eigentlicher Lyrik kann
man deshalb auch erst mit dem Abschluß des Rokoko sprechen. Dort
erst wurde es dem Dichter möglich, sein bewegtes Ich zum Mittel-
punkt zu machen, da ja mit der endgültigen Lockerung des gefügten
Kultur- und Weltbildes das Gewordene wieder zum Werden, das Sein
wieder zur Bewegung wurde. Die erst gebundene (Renaissance), dann
erstarrte (Rokoko) Welt löste sich wieder auf, im Bewußtsein strömte
die Welt wieder in alter Unbegrenztheit im gleichen Fluß wie das
bewegte Ich. Nun auch konnte die Sprache wieder im eigenen Geiste,
der ja die Bewegung ist, tönen. Keine Welt drängte sich mehr da-
zwischen und machte Bilder zu ihrer Bewältigung notwendig *). Lyrik
') Die eigentliche lyrische Bilderwelt hat anderen Sinn. Da bedeutet das Bild