ZUM GEHEIMNIS DER MEDICEERGRÄBER.
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Der Morgen.
Die Betrachtung dieser nächsten Figur führt uns zu einer neuen über-
raschenden Erkenntnis: die vier Figuren sind nicht als Einzelwesen in
jeweils verschiedenem Verhalten zu dem Trauerfall gedacht, sondern als
mit dem Zeitverlauf wechselnde fortschreitende Seelenhaltungen eines
einzelnen trauernden Menschen, wie sie jeder normal veranlagte Be-
schauer im gegebenen Falle an sich erlebt hat oder betrachtend nach-
empfinden kann. Jene seelischen Zustände sind nur nach Temperament
und Alter auf eine Anschauungsform typisiert, die das Wesentliche der
Gefühlskomplexe am stärksten zum sichtbaren Ausdruck bringt.
Stellen wir uns nun vor, daß der Trauernde durch den spannungs-
lösenden Einfluß der Nacht in einen Zustand seelischer Beruhigung, ja
nach dem Erlebnis auch physisch schwer angreifender Spannungen zu
einem Gefühl wohliger Befriedigung gekommen ist, so wird die Wirkung
des neuen Tageslichtes sich instinktiv in erneuter Aktivität als Trieb zum
frisch energischen Aufstehen und Wiedereintreten in das tätige Leben
äußern. Die Beine beginnen die Aktion, der Kopf hebt sich dem Licht
entgegen. Da auf einmal tritt das tief Erschreckende des furchtbaren Ver-
lustes von neuem ins Bewußtsein — jeder Trieb zu tätigem Handeln
hört auf, und der Trauernde sinkt kraftlos auf sein Lager zurück. Es
kommt nicht mehr zu einer energievollen Auflehnung gegen das Ge-
schick, eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt sich der Seele, immer tiefer
und gieriger bohren sich die Vorstellungen in alle Einzelheiten des Ver-
lustes, jeder seelische Halt geht verloren, und das beherrschende All-
gemeingefühl ist Lebensüberdruß und völlige widerstandslose Ableh-
nung des lichten Tages mit seinen Energiereizen. Der Trauernde kehrt
sich nach der Wand, verhüllt sein Haupt und versinkt in dumpfes Brü-
ten. Die Mahnung der Natur hat nicht gefruchtet, die subjektiv-egoistische
Einstellung des Leidenden hat den lebensfördernden Zusammenhang mit
der Natur zerrissen — die Vernichtungstendenz des Todes hat den Sieg
behalten, nach einem kurzen Energieaufschwung hat eine völlige Auf-
lösung jeder psychisch und physischen Konzentration Platz gegriffen.
Von hier aus begreift sich leicht, warum M. A. hier ein junges, blühendes
Weib dargestellt hat. Die Jugend der Frau ergibt doch vorzugsweise
sowohl das Vollgefühl des beruhigenden Schlafgenusses wie die Neigung
zu melancholisch-sentimentalem Überschwang. Psychologisch gewertet,
haben wir nun doch in der Figur des Morgens einen vorübergehenden
Energieaufschwung, der einer dauernden seelisch-physischen Erschlaf-
fung Platz gemacht hat.
Der Mittag.
Kraftlos liegt der Trauernde da, entschieden der Wand und dem
Dunkel zugekehrt. Mit Haß hat er sich von der Welt abgewandt, mit
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Der Morgen.
Die Betrachtung dieser nächsten Figur führt uns zu einer neuen über-
raschenden Erkenntnis: die vier Figuren sind nicht als Einzelwesen in
jeweils verschiedenem Verhalten zu dem Trauerfall gedacht, sondern als
mit dem Zeitverlauf wechselnde fortschreitende Seelenhaltungen eines
einzelnen trauernden Menschen, wie sie jeder normal veranlagte Be-
schauer im gegebenen Falle an sich erlebt hat oder betrachtend nach-
empfinden kann. Jene seelischen Zustände sind nur nach Temperament
und Alter auf eine Anschauungsform typisiert, die das Wesentliche der
Gefühlskomplexe am stärksten zum sichtbaren Ausdruck bringt.
Stellen wir uns nun vor, daß der Trauernde durch den spannungs-
lösenden Einfluß der Nacht in einen Zustand seelischer Beruhigung, ja
nach dem Erlebnis auch physisch schwer angreifender Spannungen zu
einem Gefühl wohliger Befriedigung gekommen ist, so wird die Wirkung
des neuen Tageslichtes sich instinktiv in erneuter Aktivität als Trieb zum
frisch energischen Aufstehen und Wiedereintreten in das tätige Leben
äußern. Die Beine beginnen die Aktion, der Kopf hebt sich dem Licht
entgegen. Da auf einmal tritt das tief Erschreckende des furchtbaren Ver-
lustes von neuem ins Bewußtsein — jeder Trieb zu tätigem Handeln
hört auf, und der Trauernde sinkt kraftlos auf sein Lager zurück. Es
kommt nicht mehr zu einer energievollen Auflehnung gegen das Ge-
schick, eine dumpfe Verzweiflung bemächtigt sich der Seele, immer tiefer
und gieriger bohren sich die Vorstellungen in alle Einzelheiten des Ver-
lustes, jeder seelische Halt geht verloren, und das beherrschende All-
gemeingefühl ist Lebensüberdruß und völlige widerstandslose Ableh-
nung des lichten Tages mit seinen Energiereizen. Der Trauernde kehrt
sich nach der Wand, verhüllt sein Haupt und versinkt in dumpfes Brü-
ten. Die Mahnung der Natur hat nicht gefruchtet, die subjektiv-egoistische
Einstellung des Leidenden hat den lebensfördernden Zusammenhang mit
der Natur zerrissen — die Vernichtungstendenz des Todes hat den Sieg
behalten, nach einem kurzen Energieaufschwung hat eine völlige Auf-
lösung jeder psychisch und physischen Konzentration Platz gegriffen.
Von hier aus begreift sich leicht, warum M. A. hier ein junges, blühendes
Weib dargestellt hat. Die Jugend der Frau ergibt doch vorzugsweise
sowohl das Vollgefühl des beruhigenden Schlafgenusses wie die Neigung
zu melancholisch-sentimentalem Überschwang. Psychologisch gewertet,
haben wir nun doch in der Figur des Morgens einen vorübergehenden
Energieaufschwung, der einer dauernden seelisch-physischen Erschlaf-
fung Platz gemacht hat.
Der Mittag.
Kraftlos liegt der Trauernde da, entschieden der Wand und dem
Dunkel zugekehrt. Mit Haß hat er sich von der Welt abgewandt, mit