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ERNST KOHN-BRAMSTEDT.
zuvor in Deutschland derart von innen her die kollektive Macht einer
Familie geschildert; man traute seinen Augen nicht, als hier eine deutsche
Patrizierfamilie nicht mehr als Vorbild verherrlicht, sondern in ihrem
Verfall mit der kühlen Ruhe eines künstlerischen Forschers gezeichnet
wurde. Die „Buddenbrooks" bedeuten die anonyme Macht der Kaste,
die unentrinnbare Logik der „Zugehörigkeit zu"..., die unerbittliche
Schicksalskraft eines überindividuellen Ganzen. Dieser Familiengeist
der Lübecker Hautevolee schlägt alle Glieder in seinen Bann, und am
meisten die Abtrünnigen, die ihm Fehde geschworen haben; der un-
geratene Sohn des ältesten Buddenbrook, der eine Mesalliance einging,
muß ihr ebenso zu Gunsten der ungeschriebenen Familiengesetze ent-
sagen, wie der träumerische Hanno, dieser feinste Künstlerspätling, recht-
zeitig von der Lebensbühne abzutreten hat, weil er nicht zum Bürger
geboren ist. Eine dünnklare Luft von Gepflegtheit, Tradition, Ehrgeiz,
verpflichtender Führerstellung umgibt zwingend jeden Sproß der Fa-
milie. „Die Dehors wahren!" heißt der kategorische Imperativ des Sena-
tors Thomas Buddenbrook, dieses arbeitsamen Fingerspitzenmenschen,
bei dem die Repräsentation schon nicht mehr ein Ausfluß müheloser Vi-
talität ist. Und in der Tat: das Leben der Buddenbrooks mag im Gehei-
men bizarr, gequält, verfallen sein, — nach außen behauptet sich noch
im Verfall die Atmosphäre redlich erworbenen Besitzes, wohl angezoge-
ner Untadelhaftigkeit, sicherer Fundiertheit im Kampf ums Dasein. Den
Triumph der Atmosphäre über jeglichen Anlauf ihrer Glieder zur Selb-
ständigkeit stellt der Verlauf der Begegnung des Senators Buddenbrook
mit der Metaphysik Arthur Schopenhauers dar. Eines Nachts fällt dem
schon vom Leben zernagten Praktiker die „Welt als Wille und Vorstel-
lung" in die Hand. Sein lebensmüder Geist lauscht mit Entzücken der
Lehre von der Nichtigkeit alles Drängens und Wollens, von der Un-
zerstörbarkeit eines Allgemeinen unter der verfallenden Hülle des Ego.
Einen Augenblick ist die Macht der Atmosphäre verschwunden, durch-
brochen der Wahn, daß unser Dasein durch die Familie Sinn bekomme,
unser Tun in den Kindern fortlebe; aber am Tage darauf hebt die alte
Magie aufs neue an — die Erleuchtungen der Metaphysik sind verges-
sen, der Atmosphären druck lastet wieder und bis zum baldigen Tode
dauernd auf dem Haupt der Familie.
Alles Individuelle ersteht hier erst auf der Folie eines normativen
Familientyps, wird gleichsam nur im Kontrast dazu hervorgehoben.
Gesten, Bewegungen, Aussehen der Einzelnen deuten dies Imponderabile
der Atmosphäre an und verstärken es; an Farbe und Haltung der Hände
des Thomas Buddenbrook etwa wird die drohende Zersetzung dieser
arbeitsgeschwängerten Luft vorausgeahnt: „Thomas Buddenbrook war
bleich und seine Hände im besonderen, an deren einer nur" der große
ERNST KOHN-BRAMSTEDT.
zuvor in Deutschland derart von innen her die kollektive Macht einer
Familie geschildert; man traute seinen Augen nicht, als hier eine deutsche
Patrizierfamilie nicht mehr als Vorbild verherrlicht, sondern in ihrem
Verfall mit der kühlen Ruhe eines künstlerischen Forschers gezeichnet
wurde. Die „Buddenbrooks" bedeuten die anonyme Macht der Kaste,
die unentrinnbare Logik der „Zugehörigkeit zu"..., die unerbittliche
Schicksalskraft eines überindividuellen Ganzen. Dieser Familiengeist
der Lübecker Hautevolee schlägt alle Glieder in seinen Bann, und am
meisten die Abtrünnigen, die ihm Fehde geschworen haben; der un-
geratene Sohn des ältesten Buddenbrook, der eine Mesalliance einging,
muß ihr ebenso zu Gunsten der ungeschriebenen Familiengesetze ent-
sagen, wie der träumerische Hanno, dieser feinste Künstlerspätling, recht-
zeitig von der Lebensbühne abzutreten hat, weil er nicht zum Bürger
geboren ist. Eine dünnklare Luft von Gepflegtheit, Tradition, Ehrgeiz,
verpflichtender Führerstellung umgibt zwingend jeden Sproß der Fa-
milie. „Die Dehors wahren!" heißt der kategorische Imperativ des Sena-
tors Thomas Buddenbrook, dieses arbeitsamen Fingerspitzenmenschen,
bei dem die Repräsentation schon nicht mehr ein Ausfluß müheloser Vi-
talität ist. Und in der Tat: das Leben der Buddenbrooks mag im Gehei-
men bizarr, gequält, verfallen sein, — nach außen behauptet sich noch
im Verfall die Atmosphäre redlich erworbenen Besitzes, wohl angezoge-
ner Untadelhaftigkeit, sicherer Fundiertheit im Kampf ums Dasein. Den
Triumph der Atmosphäre über jeglichen Anlauf ihrer Glieder zur Selb-
ständigkeit stellt der Verlauf der Begegnung des Senators Buddenbrook
mit der Metaphysik Arthur Schopenhauers dar. Eines Nachts fällt dem
schon vom Leben zernagten Praktiker die „Welt als Wille und Vorstel-
lung" in die Hand. Sein lebensmüder Geist lauscht mit Entzücken der
Lehre von der Nichtigkeit alles Drängens und Wollens, von der Un-
zerstörbarkeit eines Allgemeinen unter der verfallenden Hülle des Ego.
Einen Augenblick ist die Macht der Atmosphäre verschwunden, durch-
brochen der Wahn, daß unser Dasein durch die Familie Sinn bekomme,
unser Tun in den Kindern fortlebe; aber am Tage darauf hebt die alte
Magie aufs neue an — die Erleuchtungen der Metaphysik sind verges-
sen, der Atmosphären druck lastet wieder und bis zum baldigen Tode
dauernd auf dem Haupt der Familie.
Alles Individuelle ersteht hier erst auf der Folie eines normativen
Familientyps, wird gleichsam nur im Kontrast dazu hervorgehoben.
Gesten, Bewegungen, Aussehen der Einzelnen deuten dies Imponderabile
der Atmosphäre an und verstärken es; an Farbe und Haltung der Hände
des Thomas Buddenbrook etwa wird die drohende Zersetzung dieser
arbeitsgeschwängerten Luft vorausgeahnt: „Thomas Buddenbrook war
bleich und seine Hände im besonderen, an deren einer nur" der große