44
WANDA KAMPMANN.
Das alles bedeutet, daß Goethes Begriff von Menschenwürde und
Größe mit keinem in der Welt übereinstimmte als mit dem homerischen —
in einer Zeit, da er den Prolog zu „Hermann und Dorothea" und die
„Achilleis" gedichtet hatte —, daß er Winckelmanns Gedanken von der
Nachahmung jetzt verstand als ein Eintauchen in die Sphäre klassischen
Menschentums, als ein Begreifen seiner tiefsten Gesetze. Wenn man hin-
ter die homerische Dichtung greift, so ist Homer oder die griechische
Sage wie ein Schattenreich, in dem alle denkbaren und formbaren Gestal-
ten der bildenden Kunst unerlöst umherwandeln. Wer ihnen Blut gibt,
ruft sie zum Leben. Das ist der Sinn der homerischen Gegenstände für
den Maler und Bildhauer.
Als Goethe 1804 eine literarische Rekonstruktion von Polygnots Ge-
mälden in Delphi versucht, spricht er selbst von den „Schatten, die wir
jetzt mühsam vor die Einbildungskraft rufen", und die nur darauf warten,
wieder in sinnlicher Gestalt zu erscheinen. Seine Absicht ist auch hier,
nicht so sehr der Wissenschaft als vielmehr der Kunst zu dienen. Es ist
„die Begierde nach unmittelbarem Anschauen", „das Bedürfnis, allem
denjenigen, was wir geistiger Weise gewahr werden, auch ein sinnliches
Bild unterzulegen". Diese Begierde ist also auch die Grundlage des Ein-
greifens in die Kunstentwicklung seiner Zeit.
Noch ein anderer Gedanke liegt der Wahl von mythologischen Gegen-
ständen zugrunde. Goethe glaubte ganz im Sinn der Metamorphose, daß
ein Stoff erst in steter Umgestaltung und Wiedergestaltung zu seiner höch-
sten Form heraufgeläutert werde, daß nicht ein Künstler und eine Gene-
ration von Künstlern, sondern eine Reihe, die sich durch Jahrhunderte
fortsetzt, das Motiv immer steigert und sich von Geschlecht zu Geschlecht
das Vollkommenere zureicht, zum Gipfel gelangen könne. Unter diesem
Aspekt sah er auch die Geschichte der Kunst. Die Griechen scheuten sich
nicht, das gleiche Thema in beständiger Verwandlung neu zu gestalten,
und so sollten auch die gegenwärtigen Künstler das Unerschöpfliche und
unendlich Motivbare des großen Gegenstandes erkennen.
Die Motive aus Homer, die Goethe wählte, waren ihm zum Teil seit
den Knabenjahren vertraut. Unter den Bildern, die. Seekatz in seinem
Frankfurter Elternhaus für den Grafen Thoranc malte, befanden sich
„Achill unter den Töchtern des Lykomedes" und „Hektors Abschied von
Andromache"1). Bei dem „Tod des Rhesus" mochte Goethe an die von
ihm so meisterhaft beschriebene Reiterschlacht Lionardos denken, die er
sich nach literarischen Überlieferungen rekonstruierte, bei dem „Achill auf
Skyros" an Michelangelos Karton der badenden Soldaten2). Denn hier
wie dort bringt Geschrei und Waffenlärm Bewegung in eine menschliche
!) Vgl. Ernst Maass, Goethe und die Antike, Berlin 1912, S. 48.
-') Vgl. den Anhang zu Benvenuto Cellini, W.A. 44, 310 ff.
WANDA KAMPMANN.
Das alles bedeutet, daß Goethes Begriff von Menschenwürde und
Größe mit keinem in der Welt übereinstimmte als mit dem homerischen —
in einer Zeit, da er den Prolog zu „Hermann und Dorothea" und die
„Achilleis" gedichtet hatte —, daß er Winckelmanns Gedanken von der
Nachahmung jetzt verstand als ein Eintauchen in die Sphäre klassischen
Menschentums, als ein Begreifen seiner tiefsten Gesetze. Wenn man hin-
ter die homerische Dichtung greift, so ist Homer oder die griechische
Sage wie ein Schattenreich, in dem alle denkbaren und formbaren Gestal-
ten der bildenden Kunst unerlöst umherwandeln. Wer ihnen Blut gibt,
ruft sie zum Leben. Das ist der Sinn der homerischen Gegenstände für
den Maler und Bildhauer.
Als Goethe 1804 eine literarische Rekonstruktion von Polygnots Ge-
mälden in Delphi versucht, spricht er selbst von den „Schatten, die wir
jetzt mühsam vor die Einbildungskraft rufen", und die nur darauf warten,
wieder in sinnlicher Gestalt zu erscheinen. Seine Absicht ist auch hier,
nicht so sehr der Wissenschaft als vielmehr der Kunst zu dienen. Es ist
„die Begierde nach unmittelbarem Anschauen", „das Bedürfnis, allem
denjenigen, was wir geistiger Weise gewahr werden, auch ein sinnliches
Bild unterzulegen". Diese Begierde ist also auch die Grundlage des Ein-
greifens in die Kunstentwicklung seiner Zeit.
Noch ein anderer Gedanke liegt der Wahl von mythologischen Gegen-
ständen zugrunde. Goethe glaubte ganz im Sinn der Metamorphose, daß
ein Stoff erst in steter Umgestaltung und Wiedergestaltung zu seiner höch-
sten Form heraufgeläutert werde, daß nicht ein Künstler und eine Gene-
ration von Künstlern, sondern eine Reihe, die sich durch Jahrhunderte
fortsetzt, das Motiv immer steigert und sich von Geschlecht zu Geschlecht
das Vollkommenere zureicht, zum Gipfel gelangen könne. Unter diesem
Aspekt sah er auch die Geschichte der Kunst. Die Griechen scheuten sich
nicht, das gleiche Thema in beständiger Verwandlung neu zu gestalten,
und so sollten auch die gegenwärtigen Künstler das Unerschöpfliche und
unendlich Motivbare des großen Gegenstandes erkennen.
Die Motive aus Homer, die Goethe wählte, waren ihm zum Teil seit
den Knabenjahren vertraut. Unter den Bildern, die. Seekatz in seinem
Frankfurter Elternhaus für den Grafen Thoranc malte, befanden sich
„Achill unter den Töchtern des Lykomedes" und „Hektors Abschied von
Andromache"1). Bei dem „Tod des Rhesus" mochte Goethe an die von
ihm so meisterhaft beschriebene Reiterschlacht Lionardos denken, die er
sich nach literarischen Überlieferungen rekonstruierte, bei dem „Achill auf
Skyros" an Michelangelos Karton der badenden Soldaten2). Denn hier
wie dort bringt Geschrei und Waffenlärm Bewegung in eine menschliche
!) Vgl. Ernst Maass, Goethe und die Antike, Berlin 1912, S. 48.
-') Vgl. den Anhang zu Benvenuto Cellini, W.A. 44, 310 ff.