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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0092
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78

BESPRECHUNGEN.

gründlich sichtbaren Erscheinungen auf einen einheitlichen Griff im Zentrum zurück-
zuführen, sind wir wissenschaftlich befriedigt. Diesen einheitlichen Griff eben leistet
vielfach das Bild, sei es nun ein physikalisches oder das Seelenbild eines Dichters.
„Richtig" heißt es, wenn es möglichst alle Einzelzüge umgreift und zu keinem vor-
handenen in Widerspruch steht. Von mehreren Bildern hat das ökonomischste den
Vorzug, das bei geringstem Aufwand und einfachster Struktur am meisten leistet.
Dies ist die Verfahrensweise aller empirischen Wissenschaften, sobald sie „erklären"
wollen. Daß, im besonderen Falle der Literaturwissenschaft, die Gewinnung eines
Gesamtbildes z. B. von Hölderlins Dichtergestalt praktisch außerordentlich frucht-
bar sein kann auch für das Verständnis einer einzelnen Hymne, versteht sich ohne
weiteres.

Methodisch etwas ganz andres aber geschieht, wenn Pfeiffer den Dichter, ab-
strakt genommen, in seine Überlegungen einbezieht, um so ganz allgemeine Krite-
rien und Kategorien für das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde abzuleiten
oder zu stützen. Da sind die Betrachtungen über Notwendigkeit, Wahrheit, Echt-
heit, Ursprünglichkeit, eigenen Ton (S. 27 f., 32 f., 84 f., 106 f.). Als Beispiel diene
ein Zitat nach Rilke: „Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand.
In dieser Art des Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes" (S. 106). Ich
frage: Was ist mit dieser Behauptung gewonnen? Wie läßt sich die Notwendigkeit
des Ursprungs jemals nachprüfen? Abgesehen davon, daß der Dichter unbekannt
oder unerreichbar sein, daß er bewußt täuschen oder sich irren könnte: Ist denn
der Dichter überhaupt maßgebend? Die rein menschliche Notwendigkeit, der Drang
also, sich ein Erlebnis im Gedicht von der Seele zu schaffen, kann auch beim Dilettan-
ten vorhanden sein, während umgekehrt der Dichter höchstes Spielgefühl empfinden
mag; das sieht Pfeiffer selbst (S. 106/7). diese Art Notwendigkeit ist es also nicht,
sondern wir müssen uns auf eine „poetische" Notwendigkeit zurückretten. Damit
aber sind wir wieder beim fertigen Werk angelangt, oder sollte man sich unter dem
Begriff einer poetischen Notwendigkeit des Ursprungs etwas vorstellen können?
Und wenn auch: Dann wäre allerdings der Dichter zuständig; aber wer stempelt
denn einen Schriftsteller zum Dichter oder zum bloßen Dilettanten? und nach wel-
chen Gesichtspunkten? Auch hier wieder wird der Kunstbeurteiler auf das Werk
und damit unser Problem in sich selbst zurückgeführt, d. h. aber: solche „Erklä-
rungen" ziehen uns im Kreis an der Nase herum. Der Versuch, ästhetische Katego-
rien in der Entstehung zu verankern, im Menschen, „der sein In-der-Welt-Sein voll-
zieht in der Weise des Dichtens" (S. 106), ruft statt Klarheit nur immer ärgere
Vernebelung hervor; das Rätsel wird einfach ins Unbestimmte, Unkontrollierbare
zurückgeschoben, hinter die Kulissen, aber ohne daß wir dort jenen ordnenden Griff
zu entdecken vermöchten, der eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen einheitlich
zu deuten lehrt. Wäre dies „In-der-Welt-Sein usw." wenigstens ein Dauerzustand
des Dichters und beschränkte sich nicht auf begrenzte Epochen (besonders deutlich
etwa bei Uhland) oder gar nur einzelne begnadete Momente! Denn dann könnte
man aus der grundsätzlich dichterischen Haltung eines Künstlers gleich auf die
poetische Notwendigkeit sämtlicher Werke schließen. Das wäre immerhin ein
Gewinn, es wäre! Genau das gleiche Elend ist's mit der „das Mensch-Sein ur-
sprünglich-erfassenden und intensiv-erfahrenden Individualität", die sich im „eignen
Ton" offenbaren soll. Wieder handelt es sich übrigens nicht um eigentlich lyrische,
nicht einmal nur dichterische Qualität, denn dieser eigne Ton kommt auch in andern
Künsten zur Geltung. Erreicht aber wird nicht das geringste durch die Zurückschie-
bung in die Individualität des Schöpfers, im Gegenteil: Wie soll man es erklären,
daß zwar Goethes Gedichte den eignen Ton vollendet besitzen, seine Zeichnungen
 
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