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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Mann, Otto: Grundlagen und Gestaltung des Lessingschen Humors
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0018
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OTTO MANN

land die moralische Lehre; in beiden Ländern das Rührende und Span-
nende.

Deutschland bot nichts, was Lessing über dieses westeuropäische
Drama hätte hinausführen können. In England war das hohe Tragische
und Komische verloren gegangen durch Absinken einer noch welthaltigen
und schicksalvollen Gesellschaft in die bloß menschliche Gesellschaft;
in Deutschland hatte der Mangel an Gesellschaft die Bildung eines
eigenwüchsigen Dramas bis zu Lessing verhindert. Die barocke Tragödie,
bei Gryphius noch echt gefüllt durch christlich stoisches Pathos, war
im leeren Raum des inneren und gelehrten Bedürfnisses geblieben;
noch mehr das Lustspiel eine rohe Farce. Chr. Weise, das größte
deutsche dramatische Talent zwischen Gryphius und Lessing, blieb der
Schulbühne verhaftet; seine Lustspiele sind Mischungen zwischen alter
ungebrochen komischer Darstellung, noch der Harlekinade, und dem
Streben nach gesellschaftlicher Verfeinerung, nach realistischer Schau
der Gesellschaft. Gottsched dann ist ganz folgerichtig aufklärerische
Moderne. Er erkennt völlig richtig, daß das barocke pathetische Drama
der Schlesier, die rohe Farce ausgespielt haben. Er übernimmt aus dem
Westen vielspältige Anregungen, in der Tragödie klassizistisch abge-
schwächten Barock, im Lustspiel den modernen Realismus mit seinen
Urbanen und moralischen Absichten. Er bricht mit der deutschen Über-
lieferung, entscheidend mit dem derb und ursprünglich Komischen, das
sich mit vielen Brechungen und Zuflüssen von den mittelalterlichen
Schwänken und Fastnachtsspielen bis zu Chr. Weise durchgehalten hat;
er stellt den Deutschen auf den Boden des aufklärerischen 18. Jahr-
hunderts, ohne selbst irgendwie über den dogmatischen Glauben an die
Aufklärung hinauszuragen. Er zeigt nur die Aufgabe des deutschen
Dramas und Theaters, aus den Bedingungen der aufgeklärten und ratio-
nalisierten Gesellschaft, ohne die schicksaloffene Freiheit und lebendige
Fülle, von der die westlichen Länder noch hatten zehren können, einen
echten dramatischen, einen tragischen und komischen Ausdruck zu ge-
winnen.

Lessing gehört als Dramatiker ganz der realistischen Gegenwart.
Unter den Führern zur Kunst und Dichtung bildet er allein in den
Grenzen seiner Gesellschaft. Winckelmann wurde antik; Klopstock war
christlich, antik, germanisch. Für Lessing allein ist Kunst oder Dichtung
die verantwortungsvollste Tätigkeit, den Menschen seiner Zeit sich selbst
ansichtig zu machen. Wo Klopstock sich begeisterte, selbst noch an
seinem Dichtertum, drückte Lessing den Menschen in seiner Zeit aus,
gab ihm eine ursprüngliche Tiefe zurück. Miss Sara Sampson, Emilia
Galotti sind zugleich helle und getreue Bilder einer aufgeklärten Gesell-
schaft wie die geheimnisvolle Tiefenschau und -gestaltung eines Mannes,
 
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