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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Baránszky-Jób, Ladislaus: Die gegenwärtigen Probleme der ungarischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0047
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GEGENWÄRTIGE PROBLEME DER UNGARISCHEN ÄSTHETIK 33

ungarischen Ästhetik waren die Künstler, die Dichter selbst. So war es
bereits in den Anfängen der neuzeitlichen ungarischen Literatur, als der
Bibelübersetzer Johannes Erdösi hervortrat (seine Übersetzung des neuen
Testaments erschien im Jahre 1541 und enthält im Vorwort die ersten
national-ästhetischen Bemerkungen über die dichterische Begabung des
ungarischen Volkes), sodann bei Gyöngyösi (1625—1704), Bessenyei,
Kazinczy, Kärmän, Verseghy, Kölcsey, Berzsenyi (alle — wenn auch
teils jüngere — Zeitgenossen Goethes) und Johannes Arany, Emerich
Madäch bis zu den Dichtern der Gegenwart, wie Michael Babits, Desider
Kosztolänyi, Laurenz Szabö. Man kann sagen: so viele Ästhetiker wie
Dichter. Diese Tatsache scheint auch darauf hinzuweisen, daß die unga-
rische Kultur mit der lateinischen in hohem Maße verwandt ist. Das
künstlerische Bewußtsein scheint ein nationales Wesensmerkmal der
ungarischen Poesie zu sein. Dieses Bewußtsein verhilft dazu, daß die
Überlieferung bewahrt, gehütet und bewußt im Zeichen des Zeitgeistes
gestaltet wird. Eine solche Schärfe des Sehens ist durch die Stellung
einer Nation bedingt, die inmitten fremder Völker und Kulturen sich
nicht ungefährdet nur auf das Gebot ihrer innersten Instinkte verlassen
kann, sondern mit kühlem und klarem Blick umherforschen muß, um
auch das wahrzunehmen, was ihrem Instinkte fern, ja sogar entgegen-
gesetzt ist. Auch liegt in der ungarischen Seele eine Neigung zum Kon-
kreten. Diese Neigung allein könnte die Vorliebe für Kunstwissenschaft
und Kritik, sowie die Abneigung gegen jede theoretische Ästhetik hin-
reichend erklären. Kritik und Kunsttheorie scheinen im ungarischen
Geistesleben die Stelle der Ästhetik einzunehmen. Gyulai, Peterfy, Beöthy,
Negyesy gelten als die größten Ästhetiker der vorangehenden Genera-
tionen, und auch heute erfreut sich Geysa Voinovich als Kenner und
Behüter der Erbschaft des nationalen Geschmacks mit Recht des größten
Ansehens. Die Angeführten sind aber allesamt Kritiker und Kunstken-
ner, mit der Gabe der dichterischen Einfühlung — und nur im geringen
Maße Theoretiker, und als Theoretiker stets Eklektiker. Ladislaus Negyesy
gab der öffentlichen Meinung Ausdruck, wenn er sagte: Ein Quentchen
Geschmack ist für die Ästhetik fruchtbringender als die stärkste Be-
gabung zur Theorie.

Auch innerhalb der theoretischen Ästhetik ist in Ungarn die Er-
forschung der nationalen Wesensmerkmale am stärksten entfaltet. Zsolt
Beöthy (1848—1922) verdankte seine jahrzehntelang unbestrittene
ästhetische Autorität dem feinen Sinn für die nationale Wesensart im
Künstlerischen und für deren Struktur. Mit Recht war sein Name gleich-
bedeutend mit Ästhetik, und obgleich er theoretisch nicht weit über die
Lehren Taines, Fechners, Mario Pilos hinauskam, sind Gelehrte wie
Bela Jänosi (1857—1921), der Ungarn mit einer vollständigen Ge-

Zcitschr. f. Ästhetik I. alle Kunstwissenschaft XXXI. 8
 
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