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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Dessoir, Max: "Der römische Brunnen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0076
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62

BEMERKUNGEN

Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Rainer Maria Rilke, Römische Fontäne

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
Aus einem alten runden Marmorrand
Und aus dem obern Wasser leis sich neigend
Zum Wasser, welches unten wartend stand,
Dem leise redenden entgegenschweigend
Und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand
Ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
Wie einen unbekannten Gegenstand;
Sich selber ruhig in der schönen Schale
Verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
Nur manchmal träumerisch und tropfenweis
Sich niederlassend an den Moosbehängen
Zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
Von unten lächeln macht mit Übergängen.

Um mit dem Gleichgültigsten zu beginnen: die erste Fassung des Meyerschen
Gedichtes (M 1) ist länger als die zweite (M2), aber kürzer als Rilkes Gedicht (R).
In M 1 schildern 5 von 16 Zeilen die Umgebung des Brunnens nach Ort (römischer
Garten) und Zeit (Mittagssonne), während M2 hiervon und somit vom einmaligen
Erlebnis nichts mehr enthält; R deutet hin auf den Himmel hinter Grün und Dunkel.
Man kann sagen, daß in Meyers zweiter Fassung die ersten vier Zeilen der früheren
Fassung durch die Überschrift ersetzt sind; bezeichnenderweise gibt Rilke seinem
rokokohaft anmutenden Gedicht die Überschrift „Fontäne".

Was die äußere Form anlangt, so besteht sie bei M 1 in vier Vierzeilern mit den
Endreimen a b a b; es entsprechen sich 1 und 3 mit nur weiblichen, 2 und 4 mit ab-
wechselnd weiblichen und männlichen Reimen. Die acht Zeilen von M 2, die männliche
Reime haben, lassen sich allenfalls in zwei Strophen gliedern; aber das Ganze ist doch
sehr einheitlich, scharf durchgearbeitet, stilistisch meisterhaft geformt. Rilke ver-
bindet die elf- und zehnsilbigen Verse zu einer freien Sonettenform. — Der Rhyth-
mus von M 1 würde auch auf gleichmäßigen Regenfall passen, der von M 2 bringt
Linie und Bewegung des Strahls heraus; Rilke klingt, zumal wenn laut gelesen, wie
das Rieseln einer Fontäne. Die Worte Meyers zeigen das sicherste Gefühl für Gliede-
rung und maßvolle Bewegtheit, während Rilkes überfeinerte Sprachkunst uns die leise
und heimliche Lebendigkeit des Wassers anschaulich macht.

Lösen wir nun aus dem Eindruck der Erscheinung das Inhaltliche heraus — so-
weit das wissenschaftlicher Handhabung möglich und erlaubt ist —, so bemerken wir
wohl zuerst, daß.Ml die Bewegung des Wassers in sechs Zuständen schildert und
dabei für jeden Zustand eine neue Zeile und ein neues Zeitwort verwendet. In M 2
werden vier Zustände beschrieben, von denen der erste und zweite eng verbunden
sind; nach dieser klaren Abfolge faßt eine Wesensschau alles zusammen. Das dritte
Gedicht zeichnet zwar auch Stufen der Wasserneige, versteckt aber den Strahl und
weckt den Eindruck verzauberter Stille. Da der Ausgangspunkt der Bewegung, das
Aufsteigen, nicht erwähnt, und der Nachdruck auf das Sinken vom obersten zum
nächsten Becken gelegt wird, so klingen die letzten vier Zeilen ab — wie es von An-
fang an vorbereitet ist. Die an sich schwache Bewegung verebbt, die Stimmung endet
in wunschlosem Träumen.
 
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