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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0086
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BESPRECHUNGEN

„Dreigestirn" von Zeitlichkeit, Bedeutung und Kraft. Denn da die „Zeitlichkeit" die
Fundamentalkategorie des Diltheyschen Denkens ist und Verläufe sich durch „Be-
deutungen" gliedern, so ist „Kraft" zur Bedeutung strukturbildendes Grundelement
des Lebens. „Diltheys Tat ist die Hereinnahme des Unbedingten in das geschicht-
liche Leben."

Sehr viel glücklicher ist sein Verfahren, wenn er, von der Gesamtsituation der
Gegenwart ausgehend, den „Wirkungszusammenhang" analysiert. In ihm sind zwei
Arten von Ordnungen gebunden: die „Systeme der Kultur", die in menschlichen Ver-
mögen gegründet sind (Erkenntnis, Sittlichkeit, Religiosität usw.), und die staatlichen
und sozialen Ordnungen, die die Voraussetzung für die Kultursysteme bilden und
sich auf Familiengemeinschaft und Herrschaftsverhältnis aufbauen. Ihrer Erfor-
schung dienen die Staats- und Sozialwissenschaften, und Dilthey schlägt als deren
gemeinsame Benennung „Politik" an Stelle von „Soziologie" vor und kennzeichnet
sie damit als unmittelbar lebensgestaltende und den Einzelnen verpflichtende Kräfte
(sollte hier etwa Einfluß von Comte vorliegen?). Die in diesem Zusammenhange zu
erwähnende Behandlung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Idee geht von einem
Dilthey-Zitat aus, das tief in das Wesen der geschichtlichen Erkenntnis eindringt:
„Faktizität der Rasse, des Raumes, des Verhältnisses der Gewalten bilden überall die
nie zu vergeistigende Grundlage. Es ist ein Traum Hegels, daß die Zeitalter eine
Stufe der Vernunftentwicklung repräsentieren. Ein Zeitalter darstellen, setzt immer
den klaren Blick für die Faktizität voraus." Und schließlich wird klar erwiesen, daß
der Begriff des „Erlebnisses" nicht nur ästhetisch gefärbt ist: „Das historische Be-
wußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen
oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der
letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Sou-
veränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben,
unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen
binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird
souverän allen Spinnweben dogmatischen Denkens gegenüber. Jede Schönheit, jede
Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet Perspektiven, die eine
Realität aufschließen. Und ebenso nehmen wir dann das Schlechte, das Furchtbare,
das Häßliche in uns auf als eine Stelle einnehmend in der Welt, als eine Realität in
sich schließend, die im Weltzusammenhang gerechtfertigt sein muß. Etwas, was nicht
weggetäuscht werden kann. Und der Relativität gegenüber macht sich die Kontinui-
tät der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache geltend" (Dilthey
G.S. VII). Was aber bedeutet das philosophisch, als daß das Leben dem Leben aus-
geliefert ist? Während man angesichts des „Weltzusammenhanges" und der „kern-
haften" historischen Tatsache am geschichtlichen Denken zu zweifeln beginnt und
unwillkürlich nach bescheideneren Ausdrucksformen Umschau hält. „Alles was die
Welt Großes und Schönes hervorgebracht hat", schreibt Ranke an einen Freund,
„möcht ich an mich heranziehen und mir aneignen, und den Gang der ewigen Ge-
schicke mit ungeirrten Augen ansehn, in diesem Geist auch selbst schöne und edle
Werke hervorbringen... Man lebt mehr in dem Ganzen als in Person. Glaube mir,
die Einsamkeit ist auch nützlich. Oft weiß man kaum mehr, daß man eine Persönlich-
keit hat. Man ist kein Ich. Der ewige Vater aller Dinge, der sie alle belebt, zieht
uns ohne Widerstand an sich."

Waterloo (Canada). Hans Rabow.
 
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