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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Wiegand, Julius: Der Gegensatz als Mittel des Aufbaus im lyrischen Gedicht
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0176
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JULIUS WIEGAND

Abergläubische Verehrer

Gab's die Jahre her genug,

In den Köpfen eurer Lehrer

Laßt Gespenst und Wahn und Trug!

Wenn der Blick an heitern Tagen
Sich zur Himmelsbläue lenkt,
Beim Sirok der Sonnenwagen
Purpurrot sich niedersenkt:
Da gebt der Natur die Ehre,
Froh, an Aug' und Herz gesund,
Und erkennt der Farbenlehre
Allgemeinen ewigen Grund!

Jedem der beiden Gegensatzbegriffe (a = Dunkelkammer, b = Natur) ist

eine Strophe gewidmet; Strophe 1 läuft der Strophe 2 gleich (parallel1'),

das Verhältnis von a: b ist 1:1. Dies ist Typ 1: „einschichtig-

g 1 e i c h m ä ß i g". Er kommt auch in Distichen-Gedichten vor; bei einem

Distichon läuft der Pentameter dem Hexameter parallel: Schiller: „Das

Kind in der Wiege".

Glücklicher Säugling! dir ist ein unendlicher Raum noch die Wiege.
Werde Mann, und dir wird eng die unendliche Welt.

Besteht das Gedicht aus 2 Distichen, so verteilen sich a und b auf je eine
Strophe: Schiller, „Die Übereinstimmung".

Auch ganze Gedichte gleichen Maßes und gleicher Länge werden
gegensätzlich gleichlaufend nebeneinandergestellt: Schiller, „Worte des
Glaubens", „Worte des Wahns"; Goethe, „Die Spröde", „Die Bekehrte";
George, „Der Erkorene", „Der Verworfene" („Teppich des Lebens").

Es ist nicht nötig, daß a und b nur einmal zu Wort kommen; der
Dichter kann mehrmals auf a und auf b zurückkommen. Sind dabei die
Abschnitte gleich groß, so entsteht Typ 2 (umschichtig-gleich-
mäßig): Schiller, „Würde der Frauen"; um der Raumersparnis willen
teilen wir (wie auch später öfter) ein kürzeres Gedicht mit: Johannes
Linke, „Waldbauern" („Rufe in das Reich", Berlin 1934, S. 207):

Wenn sie in der Ebne Äcker wenden, / Roden wir den Berg mit groben
Händen. // Wenn sie säend durch die Fluren stelzen, / Können wir im Reut den
Gräßling pelzen. // Wenn im Tal die Weizenähren reifen, / Müssen wir zu Axt und
Säge greifen. // ... Backen sie im Gäu die Gugelhupfe, / Ziehen wir den Schlitten
aus der Schupfe. // Drunten ernten sie nach hundert Tagen —■ / Wir nach hundert
Jahren voller Plagen. // Drunten schafft sich's leichter und geschwinder: / Aber
Herren sind wir drum nicht minder. //

Auch dieser sehr regelmäßige Typ 2 weist Gleichlaufgestaltung auf (meist
auf Variierung des Gedankens beruhend) und ist recht häufig.

Näheres über Gleichlaufstrophen allgemein in einem Aufsatz von mir in der
„Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur", 1936, S. 133—159.
 
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