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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0216
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BESPRECHUNGEN

darüber auffordert, welche Gründe sie zur Auswahl eines Textes bestimmten, in
welcher Weise und in welcher Abhängigkeit vom Gedicht die Komposition entstand,
von welchen anderen ästhetischen Richtlinien sich die Komponisten beherrscht und
von welchen Werken älterer oder neuerer Zeit sie sich beeinflußt fühlten. Von dem
Gesichtspunkt der Textwahl aus versucht nun Bahle das „produktive Erlebnis" zu
erfassen und aus ihm Gesichtspunkte für die „schöpferischen Erlebnis- und An-
triebsformen" zu gewinnen.

Man fragt sich nach der Lektüre dieses Buches, warum die (teilweise sehr
wortreichen und ausführlichen) Darlegungen im letzten Grunde ohne irgend ein
greifbares Ergebnis bleiben, zumal, wenn man sich mit dem im Vorwort gekenn-
zeichneten Forschungsziel der Arbeit im wesentlichen identifizieren kann. Diese
Gründe liegen, wie mir scheint, vor allem darin, daß der Verfasser weder kritisch
noch unbefangen an das Problem herantritt, sondern mit der festen, vorgefaßten
Meinung, das produktive Erlebnis bedürfe unter allen Umständen außermusika-
lischer, in den meisten Fällen sogar außerkünstlerischer Antriebe. Darum werden
auch viele Seiten des Buches mit Polemik gegen diejenigen angefüllt, die einer
anderen Ansicht sind, also die Vertreter einer autonomen Schaffenstheorie, zu denen
z. B. Pfitzner gehört. Mit dieser einseitigen, durch ein von vornherein feststehendes
Ergebnis beeinflußten Einstellung des Verfassers hängt ein anderer Widerspruch
zusammen, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht. Es ist der Widerspruch
zwischen einer exakten Forschungsmethode (die wir allerdings nur mit Vorbehalt so
bezeichnen können) und dem künstlerischen Schaffensvorgang, welcher einer solchen
Befragung nur schwer zugänglich ist. Damit stelle ich mich durchaus nicht auf die
Seite derjenigen, welche das künstlerische Schaffen einer forschenden Erkenntnis
fernhalten wollen. Aber, wenn man es unternimmt, den Pulsschlag des Schöpfe-
rischen zu belauschen, dann muß man ein feineres Ohr und feinere Hände haben
als der Verfasser.

Er baut seine ganze Beweisführung auf Äußerungen der Komponisten über
sich selbst auf. Es sollen hier nicht alle die Gründe angeführt werden, welche
dagegen sprechen, den schaffenden Künstler zugleich als Kronzeugen für sein Werk
anzurufen. Damit setzt sich Bahle gar nicht erst auseinander. Aber die heran-
gezogenen Äußerungen lassen es weder durch ihre Qualität noch durch ihre geistige
Haltung zu, als exakter Maßstab angesprochen zu werden.

Unter den veröffentlichten zeitgenössischen Berichten haben vielleicht nur die
Ernst Kfeneks Anspruch auf allgemeineres Interesse. Wenn z. B. bei einem der zur
Vertonung vorgeschlagenen Gedichte („Die kleine Mutter", von Manfred Hausmann)
sich ein Komponist „ein einfaches Krippenbild", ein anderer „eine Renaissance-
Madonna" vorstellt, während ein dritter in das heimatliche Weihnachtszimmer ver-
setzt wird, und ein vierter sich mehr durch „manche Wörter und Wortverbindungen"
zu „ganz verschwommenen Linien oder Gebilden" anregen läßt, so ist die Substanz
aller dieser Berichte doch schließlich zu gering, übrigens wohl auch zu banal, um
irgendwelche gesicherten Ergebnisse für das produktive Erlebnis daraus zu schöpfen
(S. 67 ff.). Wenn aber an einer anderen Stelle (S. 38) sechs Schaffensberichte (unter
ihnen einer von Richard Wagner) zusammengestellt werden, in denen lediglich das
Wort „es reizte" vorkommt, um daraus ein „Gegebensein von musikalischen Mög-
lichkeiten" zu folgern, so kann das wohl nicht ganz ernst genommen werden.

Wird der Wert der Zeugnisse zeitgenössischer Komponisten schon dadurch
in Frage gestellt, daß deren Auswahl durchaus nicht die Höhe einer schöpferischen
Leistung gewährleistet, die eine solche Untersuchung rechtfertigen würde, so muß
man ebenfalls die Methode des Verfassers in Zweifel ziehen, nach der er die Zeug-
 
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