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Q. F. HARTLAUB
unvergleichlich entwickelter als das „rein musikalische" der Melodie
oder gar der Harmonie. Endlich läßt sich beobachten, daß die Sprache
sehr viele Bezeichnungen für Musikalisches aus dem Wortschatz des
Gesichtsinnes überträgt, während das Umgekehrte viel seltener ist.
Unsere äußere Sinneserfahrung ist uns in den „Anschauungsformen"
des Raumes und der Zeit, unsere inneren Tatsachen (die „Seele" mit
Fühlen, Denken und Wollen) sind uns nur in der Form der Zeit ge-
geben. So ist Zeit mehr eine Form der Innerlichkeit und wir können ver-
muten, daß die uns in der Form der Zeit gegebene Kunst — die Mu-
sik — dieser Innerlichkeit näher ist als die Plastik, ja selbst die (doch
mit räumlichen Vorstellungen operierende) Dichtung. —
In einer tiefsinnigen Abhandlung1) über das Problem einer verglei-
chenden Geschichte der Künste hat Fritz Medicus darauf hingewiesen,
daß Musik und Dichtung „das Leben selbst" darstellen, die bildenden
Künste dagegen nur den „Träger" des Lebens. Die bildende Kunst setzt
den bereits vorgeformten Ausdruck des äußeren Daseins voraus, sie ist
gleichsam „Ausdruck des Ausdrucks", während Musik und Dichtung
Ausdruck des Wesens selbst sind. Nun hat freilich auch die Tonkunst
ihren „Stoff" — eben die Schallwelt, die uns ja auch im Naturzustand
schon irgendwie ausdrucksvoll, assoziativ gefühlsbetont anmutet, ferner
die Welt der Zusammenklänge, deren als Naturtatsache gegebene Wohl-
gefälligkeit oder Nicht-Wohlgefälligkeit für das Gemüt des Hörers zu
den Gesetzen und Verboten der Harmonielehre führt, endlich das Auf
und Ab der Melodie und ihres Rhythmus, der ja körperliche Be-
wegungsvorstellungen in sich schließt. Aber richtig ist doch, daß die
Natur den „plastischen" Künsten viel stärker und direkter „vorgeformt"
hat, während gerade die Musik da viel unabhängiger in ihren Aus-
drucksformen sein kann. So stehen hier jedenfalls bildende und tönende
Kunst in einem grundsätzlichen Gegensatz.
An anderer Stelle2) hat der Verfasser dieser Arbeit, anschließend an
alte romantische Spekulationen, einmal versucht, den verschiedenen
Künsten die verschiedenen „Ebenen" des Menschenwesens als ihre Ent-
sprechungen zuzuteilen: die Baukunst dem Knochengerüst (also dem
Anorganischen, „Krystallinischen" in uns), die Bildhauerei dem Leib
(der etwa dem Pflanzenreich als Stufe entspricht), die schon zwei-
dimensionale Malerei der — tierähnlichen — Seele, welche in vor-
gestellten „Bildern" träumt, endlich die Dichtung dem Geist, der vom
„Bild" zum Wort und zum Begriff aufsteigt; für die Tonkunst blieb nur
jenes Innerste, Vorbegrifflich-Allgemeine, das Schopenhauer bekanntlich
*) Medicus, Fritz: Das Problem der vergleichenden Geschichte der Künste (in
„Philosophie der Literarwissenschaft", Berlin 1930).
:) „Kunst und Religion", Leipzig 1919, pag. 110.
Q. F. HARTLAUB
unvergleichlich entwickelter als das „rein musikalische" der Melodie
oder gar der Harmonie. Endlich läßt sich beobachten, daß die Sprache
sehr viele Bezeichnungen für Musikalisches aus dem Wortschatz des
Gesichtsinnes überträgt, während das Umgekehrte viel seltener ist.
Unsere äußere Sinneserfahrung ist uns in den „Anschauungsformen"
des Raumes und der Zeit, unsere inneren Tatsachen (die „Seele" mit
Fühlen, Denken und Wollen) sind uns nur in der Form der Zeit ge-
geben. So ist Zeit mehr eine Form der Innerlichkeit und wir können ver-
muten, daß die uns in der Form der Zeit gegebene Kunst — die Mu-
sik — dieser Innerlichkeit näher ist als die Plastik, ja selbst die (doch
mit räumlichen Vorstellungen operierende) Dichtung. —
In einer tiefsinnigen Abhandlung1) über das Problem einer verglei-
chenden Geschichte der Künste hat Fritz Medicus darauf hingewiesen,
daß Musik und Dichtung „das Leben selbst" darstellen, die bildenden
Künste dagegen nur den „Träger" des Lebens. Die bildende Kunst setzt
den bereits vorgeformten Ausdruck des äußeren Daseins voraus, sie ist
gleichsam „Ausdruck des Ausdrucks", während Musik und Dichtung
Ausdruck des Wesens selbst sind. Nun hat freilich auch die Tonkunst
ihren „Stoff" — eben die Schallwelt, die uns ja auch im Naturzustand
schon irgendwie ausdrucksvoll, assoziativ gefühlsbetont anmutet, ferner
die Welt der Zusammenklänge, deren als Naturtatsache gegebene Wohl-
gefälligkeit oder Nicht-Wohlgefälligkeit für das Gemüt des Hörers zu
den Gesetzen und Verboten der Harmonielehre führt, endlich das Auf
und Ab der Melodie und ihres Rhythmus, der ja körperliche Be-
wegungsvorstellungen in sich schließt. Aber richtig ist doch, daß die
Natur den „plastischen" Künsten viel stärker und direkter „vorgeformt"
hat, während gerade die Musik da viel unabhängiger in ihren Aus-
drucksformen sein kann. So stehen hier jedenfalls bildende und tönende
Kunst in einem grundsätzlichen Gegensatz.
An anderer Stelle2) hat der Verfasser dieser Arbeit, anschließend an
alte romantische Spekulationen, einmal versucht, den verschiedenen
Künsten die verschiedenen „Ebenen" des Menschenwesens als ihre Ent-
sprechungen zuzuteilen: die Baukunst dem Knochengerüst (also dem
Anorganischen, „Krystallinischen" in uns), die Bildhauerei dem Leib
(der etwa dem Pflanzenreich als Stufe entspricht), die schon zwei-
dimensionale Malerei der — tierähnlichen — Seele, welche in vor-
gestellten „Bildern" träumt, endlich die Dichtung dem Geist, der vom
„Bild" zum Wort und zum Begriff aufsteigt; für die Tonkunst blieb nur
jenes Innerste, Vorbegrifflich-Allgemeine, das Schopenhauer bekanntlich
*) Medicus, Fritz: Das Problem der vergleichenden Geschichte der Künste (in
„Philosophie der Literarwissenschaft", Berlin 1930).
:) „Kunst und Religion", Leipzig 1919, pag. 110.