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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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Dessoir, Max: Die Rede als Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0326
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306

MAX DESSOIR

Grieche Reden, die ihn über Künftiges beraten sollten, vor Gericht spra-
chen Ankläger und Verteidiger zu ihm über Vergangenes, und lediglich
bei den Prunkreden urteilte der kunstliebende Hellene über die Schönheit
der gegenwärtigen Darbietung. (Auch heute noch werden bei festlichen
Veranstaltungen und Trauerfeiern Lobreden übergenug gehalten: in der
Tat kommt es hier wesentlich, obwohl nicht ausschließlich, auf die Kunst-
form an.) Im ganzen entspricht diese klassische Rhetorik, die an sich
einen Höhepunkt darstellt, nicht mehr unsern Bedürfnissen. Auch die
später hinzutretende Wissenschaft von der christlichen Kanzelberedsam-
keit ist veraltet. Der geschichtliche Fragenkreis füllt sich erst mit Leben,
wenn man die Frage aufwirft: bestehen zwischen der Redekunst und den
übrigen Künsten einer Zeit kennzeichnende Ähnlichkeiten? Richtet sich
der rednerische Stil nach der gerade vorherrschenden Kunst? Gorgias
und seine Schüler prahlten mit Bildern, eigenartigen Ausdrücken, gleich-
sinnigen Wörtern, Wortspielen und künstlichen Gegensätzen; sie be-
gnügten sich andererseits mit kleinen, immer wiederkehrenden Zweiteilun-
gen. Hat diese wunderliche, neuheitssüchtige Art ein Gegenstück in den
andern Künsten des 5. Jahrhunderts?

Indessen die geschichtlichen Zusammenhänge sollen hier nicht er-
örtert werden. Wenn wir untersuchen, was die Rede mit der Kunst ver-
bindet oder von ihr trennt, so brauchen wir den Boden der Gegenwart nur
selten zu verlassen. An großen Vorbildern unter den jetzt Lebenden fehlt
es nicht, und von dem Theoretiker der Redekunst soll man nicht ver-
langen, daß er selber diese Kunst beherrsche. Ästhetiker schreiben über
alle Künste, ohne auch nur eine von ihnen zu meistern; gute Bücher über
den Erfolg stammen von Leuten, denen es im Leben nicht geglückt ist;
Hamiltons köstliche Schrift „Parlamentarische Logik, Taktik und Rheto-
rik" ist von jemand verfaßt, der in seinem Leben eine einzige Rede
gehalten hat. Die Grundprobleme unseres Fragenkreises sind überdies
von solcher Allgemeinheit, daß ihnen nur die philosophische Betrachtung
gerecht werden kann.

Darstellungsmittel oder Werkstoff des Redners ist das Wort. Aber
gleichermaßen auch des Dichters und des Lehrers. Das Gebiet der Rede
liegt zwischen den Gebilden der Poesie und den Formen der Wissensüber-
mittelung. Die Abgrenzung nach der Seite der Lehre ist nicht schwer.
Denn jedenfalls gehört die Beredsamkeit nicht zur eigentlichen Aufgabe
dessen, der Sachverhalte klar zu machen hat. Wie eine wissenschaftliche
Untersuchung ihrem Sinn ohne rednerische oder schriftstellerische Ge-
staltung genügen kann, so ist eine Unterweisung in Tatbeständen und
Gedankenzusammenhängen nicht auf die sprachliche Kunstform angewie-
sen, ganz und gar nicht auf die Flitterpracht des blendenden Redners.
Die Wahrheit bedarf keiner rhetorischen Umschmelzung. Wohl aber
 
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