BEMERKUNGEN
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Davon ist fast bedeutungslos die historische Betrachtung der ersten Schicht, des
Materials, da sich nicht das Material verändert oder gar entwickelt, sondern nur die
Verwendung des Materials. — Ferner läßt sich von unserem Ausgangspunkt, dem
Entwickelungsbegriff aus die der 8. Schicht entsprechende Kunsthistorie nur negativ
bestimmen; denn obwohl die anderen Schichten erst durch die Verbindung mit
dieser 8. Schicht zu Kunst werken werden, d. h. zu Sinngebilden, die von allen
anderen Gebilden und Gegenständen spezifisch unterschieden sind, so kann diese
Schicht doch nie zum Material einer genetischen Historie werden, weil jedes wirk-
liche Kunstwerk in dieser Hinsicht so individuell ist und so völlig in sich ruht, daß
es niemals Teil eines mehreren Kunstwerken Gemeinsamen werden kann, wie es ja
das Subjekt einer viele Werke verbindenden Entwickelung sein muß"),
An allen diesen Schichten hat nun keineswegs jedes Kunstwerk teil, woraus
folgt, daß nicht jedes Werk in jeder Historie einen Platz finden kann: so fungiert
der Gegenstand jeder Kunsthistorie zugleich als ein Auswahlprinzip aus der Masse
der vorhandenen W erke. Aber auch die Schichten, die ein Werk wirklich besitzt,
können sehr verschieden ausgeprägt und wichtig sein: bald überwiegt diese, bald
jene Seite in der Gesamtgestalt des Werkes. Daher kann die Bedeutung eines und
desselben Werkes außerordentlich schwanken, je nachdem, welche seiner Schichten
die Historie bearbeitet. Wird z. B. Konrad von Soests Dortmunder Marienaltar
unter ikonographischem Gesichtspunkt betrachtet, so wird nur der Inhalt, also der
Tod Mariä, die historische Tatsache bilden, welche in den ikonographischen Zusam-
menhang als reale Ursache und Wirkung einzuordnen wäre; in diesem Falle wäre
das Werk von durchschnittlicher Bedeutung, da es nicht wesentlich über die vorher
schon vorhandenen Darstellungen des Marientodes hinausführt. Dient das Bild als
Material für eine Historie der Maltechnik, dann ist es Glied in einem technischen
Zusammenhang, und die historische Tatsache wäre die Art und Weise, wie das Bild
und mit welchen Alitteln es gemalt ist; dann wäre es von ganz geringer Bedeutung,
da es gegenüber zahlreichen gleichzeitigen, vorhergehenden und nachfolgenden Bil-
sie ihren Gegenstand in einem auf den Bereich der Kunst beschränkten Entwicke-
lungsträger erblicken.
7) Diese Aufteilung gilt grundsätzlich für alle Gattungen der bildenden Kunst,
mögen auch die verschiedenen Schichten in den verschiedenen Gattungen ungleich
wichtig sein. Für die Scheidung der Kunsthistorien ist jedenfalls die Differenzierung
der bildenden Kunst in Gattungen nicht grundlegend; sie kann erst sekundär die
Kunsthistorien wieder zerlegen, etwa so, daß man eine Stilhistorie der Baukunst, der
Malerei und der Plastik erhält.
8) Diese Schicht kurz und treffend zu benennen, ist besonders schwer: Wir
wollen sagen, daß ein Kunstwerk auch Mittel zu einer theoretisch-rationalen Welt-
erfassung werden kann und sich dann beteiligt an der Lösung von Aufgaben, die im
allgemeinen dem Bereich vorbehalten sind, den man Wissenschaft nennt. Auf diese
Weise können Kunstwerke auch Glieder einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicke-
lungsreihe werden.
") Hier haben jene Wissenschaften von den Kunstwerken ihren Platz, die keine
Entwickelung darstellen wollen und für die das Kunstwerk nicht nur Glied eines
genetischen Zusammenhanges ist, sondern die das einzelne Kunstwerk selbst in den
Mittelpunkt der Betrachtungen stellen und allein dieses in seiner Ganzheit und Ein-
zigartigkeit, in seinem spezifisch künstlerischen Charakter und seiner vollendeten
Gestalt analysieren und erfassen wollen. (Kunsthistorie als Interpretationswissen-
schaft, als Kunstkritik, als „Strukturanalyse"; die Monographie des Einzel Werkes ist
die entsprechende äußere Form dieser Art Kunstbetrachtung.) Auch eine solche un-
genetische Wissenschaft wird man als Historie bezeichnen, schon um sie von der
Ästhetik zu unterscheiden, mit der sie nichts zu tun hat; denn sie richtet sich genau
wie alle anderen Historien auf das Einmalig-Individuelle in den Kunstwerken und
nicht, wie die Ästhetik, auf das Typisch-Allgemeine.
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Davon ist fast bedeutungslos die historische Betrachtung der ersten Schicht, des
Materials, da sich nicht das Material verändert oder gar entwickelt, sondern nur die
Verwendung des Materials. — Ferner läßt sich von unserem Ausgangspunkt, dem
Entwickelungsbegriff aus die der 8. Schicht entsprechende Kunsthistorie nur negativ
bestimmen; denn obwohl die anderen Schichten erst durch die Verbindung mit
dieser 8. Schicht zu Kunst werken werden, d. h. zu Sinngebilden, die von allen
anderen Gebilden und Gegenständen spezifisch unterschieden sind, so kann diese
Schicht doch nie zum Material einer genetischen Historie werden, weil jedes wirk-
liche Kunstwerk in dieser Hinsicht so individuell ist und so völlig in sich ruht, daß
es niemals Teil eines mehreren Kunstwerken Gemeinsamen werden kann, wie es ja
das Subjekt einer viele Werke verbindenden Entwickelung sein muß"),
An allen diesen Schichten hat nun keineswegs jedes Kunstwerk teil, woraus
folgt, daß nicht jedes Werk in jeder Historie einen Platz finden kann: so fungiert
der Gegenstand jeder Kunsthistorie zugleich als ein Auswahlprinzip aus der Masse
der vorhandenen W erke. Aber auch die Schichten, die ein Werk wirklich besitzt,
können sehr verschieden ausgeprägt und wichtig sein: bald überwiegt diese, bald
jene Seite in der Gesamtgestalt des Werkes. Daher kann die Bedeutung eines und
desselben Werkes außerordentlich schwanken, je nachdem, welche seiner Schichten
die Historie bearbeitet. Wird z. B. Konrad von Soests Dortmunder Marienaltar
unter ikonographischem Gesichtspunkt betrachtet, so wird nur der Inhalt, also der
Tod Mariä, die historische Tatsache bilden, welche in den ikonographischen Zusam-
menhang als reale Ursache und Wirkung einzuordnen wäre; in diesem Falle wäre
das Werk von durchschnittlicher Bedeutung, da es nicht wesentlich über die vorher
schon vorhandenen Darstellungen des Marientodes hinausführt. Dient das Bild als
Material für eine Historie der Maltechnik, dann ist es Glied in einem technischen
Zusammenhang, und die historische Tatsache wäre die Art und Weise, wie das Bild
und mit welchen Alitteln es gemalt ist; dann wäre es von ganz geringer Bedeutung,
da es gegenüber zahlreichen gleichzeitigen, vorhergehenden und nachfolgenden Bil-
sie ihren Gegenstand in einem auf den Bereich der Kunst beschränkten Entwicke-
lungsträger erblicken.
7) Diese Aufteilung gilt grundsätzlich für alle Gattungen der bildenden Kunst,
mögen auch die verschiedenen Schichten in den verschiedenen Gattungen ungleich
wichtig sein. Für die Scheidung der Kunsthistorien ist jedenfalls die Differenzierung
der bildenden Kunst in Gattungen nicht grundlegend; sie kann erst sekundär die
Kunsthistorien wieder zerlegen, etwa so, daß man eine Stilhistorie der Baukunst, der
Malerei und der Plastik erhält.
8) Diese Schicht kurz und treffend zu benennen, ist besonders schwer: Wir
wollen sagen, daß ein Kunstwerk auch Mittel zu einer theoretisch-rationalen Welt-
erfassung werden kann und sich dann beteiligt an der Lösung von Aufgaben, die im
allgemeinen dem Bereich vorbehalten sind, den man Wissenschaft nennt. Auf diese
Weise können Kunstwerke auch Glieder einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicke-
lungsreihe werden.
") Hier haben jene Wissenschaften von den Kunstwerken ihren Platz, die keine
Entwickelung darstellen wollen und für die das Kunstwerk nicht nur Glied eines
genetischen Zusammenhanges ist, sondern die das einzelne Kunstwerk selbst in den
Mittelpunkt der Betrachtungen stellen und allein dieses in seiner Ganzheit und Ein-
zigartigkeit, in seinem spezifisch künstlerischen Charakter und seiner vollendeten
Gestalt analysieren und erfassen wollen. (Kunsthistorie als Interpretationswissen-
schaft, als Kunstkritik, als „Strukturanalyse"; die Monographie des Einzel Werkes ist
die entsprechende äußere Form dieser Art Kunstbetrachtung.) Auch eine solche un-
genetische Wissenschaft wird man als Historie bezeichnen, schon um sie von der
Ästhetik zu unterscheiden, mit der sie nichts zu tun hat; denn sie richtet sich genau
wie alle anderen Historien auf das Einmalig-Individuelle in den Kunstwerken und
nicht, wie die Ästhetik, auf das Typisch-Allgemeine.