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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0378
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358

BESPRECHUNGEN

Kunstwirklichkeit einen eigenartigen Typus dar — und insofern hat Blackert mit
der Wahl seines Gegenstandes zweifellos einen glücklichen Blick erwiesen. Leider
aber ist er an allen den grundsätzlichen Erörterungen der Kunstwissenschaft, von
denen gerade die Rede war, offenbar ahnungslos vorbeigegangen. Was er als „ver-
wandte" (verwendete oder seiner eigenen Arbeit bloß verwandte?) Literatur anführt,
ist höchst enge und wirkt in unserer heutigen Wissenschaftslage z. T. schon reich-
lich verwelkt. Daher ist Blackerts Untersuchung auch nicht bis zu jener höheren
innern Ordnung, Ganzheit und Geschlossenheit vorgedrungen, die sie bei der sicht-
lichen Begabung des Verfassers hätte erlangen können. Daß Blackert sich (wenig-
stens im wesentlichen) darauf beschränkt hat, zu untersuchen, wie die Personen in
„A la recherche du temps perdu" eingeführt werden, ist eine Einengung auf Muster-
beispiele da, wo es vor allem auf das Ganze ankam. Aber auch in der Einzelunter-
suchung vermißt man die Leitlinie, die eben nur durch grundsätzliche kunstkritische
Erwägung festzuhalten war und die allein Ergebnisse höherer Giltigkeit statt un-
gleichwertiger, durch stimmungsmäßige ad hoc-Begriffe augenblickhaft festgehaltener
Eindrücke ermöglicht hätte. Es sei dies an einem Beispiel gezeigt.

Schon auf dem Gymnasium lernten wir (aus Anlaß Homers) den Begriff der
Mauerschau, der Teichoskopie, kennen. Es handelt sich dabei um das in jedem litera-
rischen Werk irgendwie, wenigstens in Einzelheiten, Nuancen und Variationen nach-
weisbare Prinzip, ein Geschehen, einen Vorgang, eine Person nicht als vom Dichter
selbst, sondern als mit den Augen einer seiner Dichtgestalten geschaut darzustellen.
Der künstlerische Sinn des Vorgangs kann als reinlich geklärt gelten (s. etwa die
oben erwähnte Literatur). Bei Proust nun findet er sich als herrschendes Prinzip, nur
in einer besonderen, fast manischen Art mit Varianten, eigenartigen Steigerungen,
Brechungen, Überschneidungen, die die nähere Untersuchung, die Blackert ihnen
widmet (es ist der Hauptinhalt seiner Arbeit), ohne weiteres verdienen mögen. Wie
aber stellt Blackert seine Untersuchung an? Wenn eine Person Prousts (Swann)
z. B. zuerst mit den Augen einer Tischrunde gesehen erscheint, so knüpft Blackert
statt präziser Feststellung folgende Erörterungen daran: „Der Nachdruck ist ge-
richtet nicht auf objektive Angaben, Aussagen über den eingeführten Swann, auch
nicht auf irgendwelche andern objektiven Tatsachen, obwohl es ja im Grunde darauf
ankommt, dem Leser Objektives, hier die Tischstimmung nahezubringen. Er liegt
eindeutig auf der Begründung einer Tatsache durch eine zweite, auf der Feststellung
dieser rationalen Beziehung. Dargestellt ist also eine Äußerung der Bewußtseins-
tätigkeit, eine Bewußtseinsform. Wenn es auf eine objektive Darstellung ankäme,
würde diese rationale Ordnung nicht in der Beschreibung zum Ausdruck zu kommen
brauchen. Sie würde sich am Objekt erkennen lassen und selbst wieder als etwas
Objektives erscheinen. Hier aber liegt von vornherein der Nachdruck auf dem Be-
wußtseinsvorgang, das Objektive ist von ihm aus und durch ihn von Anfang an
bestimmt und geordnet. Der Leser kann nicht am Dargestellten die Ordnung fest-
stellen, sondern er sieht es überhaupt schon in dieser Ordnung. Der contexte (!) des
angeführten Beispieles zeigt nun, daß sich die Ordnung offenbart an etwas ganz
Bestimmtem. Der Faden der Darstellung verbindet Tatbestände nach rationalen Prin-
zipien, die charakteristisch sind allein für die Gruppe um den Tisch. Die Ordnung,
in der der Leser Objektives hier wahrnehmen kann, ist wesentlich durch die Existenz
des Tischkreises selbst da und erweist sich an ihr. Geordnet sind in diesem Falle
Tatbestände des Tischkreises ... In dem angeführten Beispiel sind die Tatbestände
charakteristisch für den Tischkreis. Swann erscheint in dieser Vorstellung als Swann,
wie ihn die Tatbestände des Tischkreises bestimmen, und nur soweit, als sie ihn
bestimmen. Das ist nicht ein Swann überhaupt, wie er jedem begegnen müßte,...
 
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