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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 31.1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.14170#0382
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362

BESPRECHUNGEN

Die beiden, sonst kaum vergleichbaren Arbeiten haben etwas Gemeinsames: sie
stoßen von einem historischen Stoffgebiet aus konsequent in die seelische und geistige
Welt durch, welche hinter der Geschichte beginnt. Wenn dieser von echten Histo-
rikern und schöpferischen wissenschaftlichen Denkern immer wieder begangene Weg
heute als Forschungsprogramm einer jungen Wissenschaft aufgestellt wird und wenn
auf diesem Wege Arbeiten, wie die vorliegenden entstehen, so können wir das nur
begrüßen.

Von den beiden Untersuchungen gehört vor allem Werkmeisters Arbeit in
den Interessenbereich dieser Zeitschrift. Sie beschäftigt sich mit dem Entwicklungs-
raum zwischen ausgehendem Barock und beginnender Klassik, also besonders mit
dem „Sturm und Drang", dem Durchbruch eines neuen Weltbilds um die Mitte des
Jahrhunderts. Dieser (sonst leicht etwas fließende) Begriff wird für Dichtung und
Musik zum Gegenstand einer eingehenden, exakten und höchst fruchtbaren Unter-
suchung gemacht. Gerade die ersten Teile der Arbeit, welche sowohl die literarische
wie auch die musikalische Entwicklung von verschiedenen Gesichtspunkten aus
(nationaler Stil, landschaftliche und stammesmäßige Verbundenheit, Generations-
zugehörigkeit) getrennt beleuchten, um sie dadurch gewissermaßen „vergleichsreif"
zu machen, sind meines Erachtens die wertvollsten und ergiebigsten.

Die Vergleichung selbst wird auf Grund der von Rutz-Sievers begründeten und
von Becking auf die musikwissenschaftliche Fragestellung übertragenen Personal-
typen durchgeführt. Beckings Untersuchungen über den Rhythmus sind inzwischen
von Danckert auf das Gebiet der Melodik übertragen worden. Bei beiden aber bleibt
ein großer Materialkreis Gegenstand ihrer Beweisführung. Nun ist Werkmeisters
Arbeit in mancher Beziehung besonders geeignet, die Ergiebigkeit der Methode zur
Diskussion zu stellen, da sie sich auf einen kleineren Zeitausschnitt konzentriert und
das Vergleichsfeld auch auf die Dichtung ausdehnt. Gerade hier wird die Einstel-
lung des Lesers schwanken, je nach seinem Verhältnis zur Typenlehre, die man
freilich nach des Verfassers Absicht „geradezu als biologische Tatsache zu begreifen
und ... deshalb ... einfach hinzunehmen hat". Aber selbst wenn man voll guten
Willens einmal glauben möchte, daß Bach und — Stamitz dem gleichen Typus an-
gehören, daß ihre Musik die gleiche „Schlagkurve" habe, so steht man doch dem
Vergleich zwischen dem g-moll-Präludium aus dem Zweiten Teil des Wohltempe-
rierten Klaviers und einem zeitgenössischen Gedicht von Brockes (Das Firmament)
mit tiefer Skepsis gegenüber. Wenn der für Bachs Präludienstil typische fixierte
Rhythmus als „eine Welt des Seins, der ruhenden Erscheinungen" gedeutet wird und
auch Brockes „das Weltall von einem fixierten Standort der ruhenden Erscheinung
aus durchdringt", — so erinnern wir uns schließlich, daß unter jenem fixierten Rhyth-
mus die Melodik schon innerhalb von sechs Takten den Oktavraum durchstößt, von
dem harmonischen Wachstum nicht zu reden. Das ist doch — nehmen wir die Fuge
hinzu — alles andere als „eine Welt der ruhenden Erscheinungen".

Diese auch auf die anderen Vergleichspaare auszudehnenden Vorbehalte sollen
das wissenschaftliche Niveau der Arbeit und die erfreuliche Weite der geistigen Schau
nicht in Frage stellen. Wenn der Autor auch von seinem gesunden und tief begrün-
deten Vorrecht, seine Methode für die einzig richtige zu halten, reichlichen Gebrauch
macht, so gibt die Arbeit doch auch denen, die sich einem anderem Weltbild verbunden
fühlen, eine Fülle von Anregungen, Bestätigungen und Fragen.

Berlin. Hans Mersmann.
 
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