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Blaue
die Oede seines Lebens, die Lücke in seinem Dasein sehr wohl
empfand, arbeitete und bohrte er sich, so zu sagen, absichtlich
immer tiefer in seine schroffe, absprechende Stellung zum weib-
lichen Geschlechte hinein.
Zahlreiche Mädchen hatten ihre Netze nach dem gelehrten,
hübschen und wohlhabenden Manne ausgeworfcn. Eine derselben,
die Tochter eines Professors der Theologie, hatte sogar ihm zu
Liebe das hebräische Alphabet auswendig gelernt — umsonst —
Reinhold Delius „sah nach der Angel ruhevoll, kühl bis an's
Herz hinan." Es war eine unheimliche Thatsache, daß Delius
in seinem Schreibtisch ein dickes Buch eingeschlossen hielt, in
welchem er eigenhändig Alles niedergeschrieben hatte, was sich
zum Nachtheil der Frauen sagen läßt, und was er an weiber-
feindlichcn Gedanken in allen Schriftstellern aller alten und
neuen Sprachen bei seinen Süidien gefunden hatte. Das dicke
Buch trug als Motto die Worte Hamlets: „Schwachheit, dein Name
ist Weib," und dann wurden Eva, Rebekka, Athalia, Herodias,
Pandora, Helena, Kleopatra, Pompadour, Lola Monte; und zahl-
lose Andere in dem dicken Buche angeführt und kritisch beleuchtet.
Daß dies Buch wirklich existirte, war stadtkundig, und die
Damen hatten in ihrer Angst einst eine neuntägige Andacht zur
heiligen Agnes veranstaltet, weil das Gerücht zirknlirte, der
Professor Delius wolle das „Buch von den Frauen" drucken
und veröffentlichen lassen. Vorläufig war es denn der Heiligen
auch gelungen, die Herausgabe des Werkes glücklich zu ver-
hindern. —
Es war Frühling geworden, und die Natur hatte ihr
schönstes Festkleid angelegt. Professor Delius war eben aus
der Universität nach Hause gekommen und machte sich nun,
nachdem er seine Kollegienhefte sorgfältig in seinen Schreibtisch
eingcschlossen hatte, auf den Weg in das Gasthaus zur blauen
Kanone, um daselbst, wie gewöhnlich, sein Mittagmahl zu sich
zu nehmen. Das Haus, welches er bewohnte, lag etwas außer-
halb der Stadt, hart am Fluße, von blühenden Gärten um-
geben. Als Delius aus Her Hausthür in's Freie trat, schien
es, als ob der Frühling mit dem ganzen Aufgebot all seines
hellen Sonnenscheins, seines bunten Blumenschmelzes, seines süßen
Blüthenduftes, seines jubelnden Lerchengesanges und all seiner
Lust und Pracht und Wonne und Herrlichkeit das dürre, ver-
knöcherte Professorherz im Sturme erobern wollte; in solcher
Fülle strömte er seine lieblichen Gaben auf den Gelehrten nieder.
Aber dieser war gänzlich unempfindlich für das, was ihn umgab.
Ernsthaft, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, wandelte
er seines Weges. Seine Gedanken und seine Sinne waren
jedenfalls von irgend einer obskuren Stelle des Talmud oder des Al-
koran in Anspruch genommen, denn er hörte nicht, wie die um
ihn spielenden Kinder fröhlich in den Frühling hinein lachten,
er hörte nicht das leise Rauschen des Maiwindes, nicht den süßen
Gesang der Nachtigallen, nicht das helltönende Plätschern der
Wellen des Flußes, längs dessen Ufer er einherschritt; er fühlte nicht
die weiche Luft, die ihn gleich einer warmen, schmeichelnden Hand
umspielte, er hatte keinen Sinn für die tausend Düfte, die aus
den Gürten, den Hecken und den Wiesen als Opferweihrauch der
Frühlingsfeier cmporstiegen; er sah nicht das klare, wolkenlose
Augen.
Blau des Himmels, nicht den Blüthenschnce, der ans den Zweigen
der Bäume lag, nicht das Silber der Wellen, nicht die smaragd-
grünen Wiesen mit ihren bunten, glänzenden Blumenjuwelen.
Und am allerwenigsten hatte der ernste, bleiche Mann das schöne,
blaue Augenpaar gesehen, das sich zu ihm erhob, als er an den
Parterrefenstern des Hauses, in dessen erstem Stockwerke er
wohnte, langsam und nachdenklich vorbeigeschritten war.
Das schöne, blaue Augenpaar hatte schon volle drei Jahre
hindurch täglich, wenn auch nur flüchtig, mehrere Male auf dem
Gesichte des Professors geruht, ohne daß dieser auch nur die
leiseste Ahnung davon gehabt hätte; so wenig kümmerte er sich
um seine Hausgenossen und um Alles, was um ihn her vorging
und nicht in irgend einem Zusammenhänge mit der Wissenschaft
stand. Sechs Jahre hatte Delius nun schon in einem und
demselben Hause gewohnt, ohne zu wissen, daß in den hart an
die seinen grenzenden Zimmern der berühmte Advokat vr. Zangc-
mann, und über ihm Se. Excellenz der General Freiherr von Protze
wohnte. Wie sollte er also, wenn solche Persönlichkeiten ihm unbe-
kannt blieben, wohl von der Existenz der stillen, bescheidenen, in
den Parterrezimmern wohnhaften Anna Stein irgend welche Kennt-
niß haben? Hütte der weiberfeindliche Gelehrte gewußt, daß ein
weibliches Individuum so nahe bei ihm wohnte, so hätte er
wahrscheinlich seine beiden Zimmer längst gekündigt.
Anna Stein — so also hieß die Eigenthümerin des vorhin
erwähnten blauen Augenpaares — war eine Waise. Ihre
Mutter war schon vor langer Zeit gestorben; ihr Vater war im
Blaue
die Oede seines Lebens, die Lücke in seinem Dasein sehr wohl
empfand, arbeitete und bohrte er sich, so zu sagen, absichtlich
immer tiefer in seine schroffe, absprechende Stellung zum weib-
lichen Geschlechte hinein.
Zahlreiche Mädchen hatten ihre Netze nach dem gelehrten,
hübschen und wohlhabenden Manne ausgeworfcn. Eine derselben,
die Tochter eines Professors der Theologie, hatte sogar ihm zu
Liebe das hebräische Alphabet auswendig gelernt — umsonst —
Reinhold Delius „sah nach der Angel ruhevoll, kühl bis an's
Herz hinan." Es war eine unheimliche Thatsache, daß Delius
in seinem Schreibtisch ein dickes Buch eingeschlossen hielt, in
welchem er eigenhändig Alles niedergeschrieben hatte, was sich
zum Nachtheil der Frauen sagen läßt, und was er an weiber-
feindlichcn Gedanken in allen Schriftstellern aller alten und
neuen Sprachen bei seinen Süidien gefunden hatte. Das dicke
Buch trug als Motto die Worte Hamlets: „Schwachheit, dein Name
ist Weib," und dann wurden Eva, Rebekka, Athalia, Herodias,
Pandora, Helena, Kleopatra, Pompadour, Lola Monte; und zahl-
lose Andere in dem dicken Buche angeführt und kritisch beleuchtet.
Daß dies Buch wirklich existirte, war stadtkundig, und die
Damen hatten in ihrer Angst einst eine neuntägige Andacht zur
heiligen Agnes veranstaltet, weil das Gerücht zirknlirte, der
Professor Delius wolle das „Buch von den Frauen" drucken
und veröffentlichen lassen. Vorläufig war es denn der Heiligen
auch gelungen, die Herausgabe des Werkes glücklich zu ver-
hindern. —
Es war Frühling geworden, und die Natur hatte ihr
schönstes Festkleid angelegt. Professor Delius war eben aus
der Universität nach Hause gekommen und machte sich nun,
nachdem er seine Kollegienhefte sorgfältig in seinen Schreibtisch
eingcschlossen hatte, auf den Weg in das Gasthaus zur blauen
Kanone, um daselbst, wie gewöhnlich, sein Mittagmahl zu sich
zu nehmen. Das Haus, welches er bewohnte, lag etwas außer-
halb der Stadt, hart am Fluße, von blühenden Gärten um-
geben. Als Delius aus Her Hausthür in's Freie trat, schien
es, als ob der Frühling mit dem ganzen Aufgebot all seines
hellen Sonnenscheins, seines bunten Blumenschmelzes, seines süßen
Blüthenduftes, seines jubelnden Lerchengesanges und all seiner
Lust und Pracht und Wonne und Herrlichkeit das dürre, ver-
knöcherte Professorherz im Sturme erobern wollte; in solcher
Fülle strömte er seine lieblichen Gaben auf den Gelehrten nieder.
Aber dieser war gänzlich unempfindlich für das, was ihn umgab.
Ernsthaft, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, wandelte
er seines Weges. Seine Gedanken und seine Sinne waren
jedenfalls von irgend einer obskuren Stelle des Talmud oder des Al-
koran in Anspruch genommen, denn er hörte nicht, wie die um
ihn spielenden Kinder fröhlich in den Frühling hinein lachten,
er hörte nicht das leise Rauschen des Maiwindes, nicht den süßen
Gesang der Nachtigallen, nicht das helltönende Plätschern der
Wellen des Flußes, längs dessen Ufer er einherschritt; er fühlte nicht
die weiche Luft, die ihn gleich einer warmen, schmeichelnden Hand
umspielte, er hatte keinen Sinn für die tausend Düfte, die aus
den Gürten, den Hecken und den Wiesen als Opferweihrauch der
Frühlingsfeier cmporstiegen; er sah nicht das klare, wolkenlose
Augen.
Blau des Himmels, nicht den Blüthenschnce, der ans den Zweigen
der Bäume lag, nicht das Silber der Wellen, nicht die smaragd-
grünen Wiesen mit ihren bunten, glänzenden Blumenjuwelen.
Und am allerwenigsten hatte der ernste, bleiche Mann das schöne,
blaue Augenpaar gesehen, das sich zu ihm erhob, als er an den
Parterrefenstern des Hauses, in dessen erstem Stockwerke er
wohnte, langsam und nachdenklich vorbeigeschritten war.
Das schöne, blaue Augenpaar hatte schon volle drei Jahre
hindurch täglich, wenn auch nur flüchtig, mehrere Male auf dem
Gesichte des Professors geruht, ohne daß dieser auch nur die
leiseste Ahnung davon gehabt hätte; so wenig kümmerte er sich
um seine Hausgenossen und um Alles, was um ihn her vorging
und nicht in irgend einem Zusammenhänge mit der Wissenschaft
stand. Sechs Jahre hatte Delius nun schon in einem und
demselben Hause gewohnt, ohne zu wissen, daß in den hart an
die seinen grenzenden Zimmern der berühmte Advokat vr. Zangc-
mann, und über ihm Se. Excellenz der General Freiherr von Protze
wohnte. Wie sollte er also, wenn solche Persönlichkeiten ihm unbe-
kannt blieben, wohl von der Existenz der stillen, bescheidenen, in
den Parterrezimmern wohnhaften Anna Stein irgend welche Kennt-
niß haben? Hütte der weiberfeindliche Gelehrte gewußt, daß ein
weibliches Individuum so nahe bei ihm wohnte, so hätte er
wahrscheinlich seine beiden Zimmer längst gekündigt.
Anna Stein — so also hieß die Eigenthümerin des vorhin
erwähnten blauen Augenpaares — war eine Waise. Ihre
Mutter war schon vor langer Zeit gestorben; ihr Vater war im
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Blaue Augen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 63.1875, Nr. 1579, S. 130
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Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg