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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 1.1906

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Riemann, Hugo: Die Ausdruckskraft musikalischer Motive
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https://doi.org/10.11588/diglit.3529#0048

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III.
Die Ausdruckskraft musikalischer Motive.

Von
Hugo Riemann.

Wenn es wahr ist, daß die Musik in ihrem ursprünglichen Wesen
direkt seelisches Empfinden ausdrückt, und wenn es ferner wahr ist,
daß dieser Ausdruck von dem empfänglichen Hörer ohne Reflexion
verstanden wird oder vielmehr unmittelbar den Hörer ergreift und ihn
zum Miterleben des ausgedrückten Empfindens zwingt, so muß sich,
wenigstens in den letzten Elementen, der Ausdruckswert der melo-
dischen, harmonischen, rhythmischen, dynamischen und agogischen
Mittel des Ausdrucks definieren lassen, deren unendlich mannigfaltige
Kombinationen die komplizierten Gebilde der musikalischen Kunst
ergeben.

Freilich darf man nicht allzuviel Positives und Konkretes von einer
Analyse der Faktoren des musikalischen Ausdrucks erwarten. Eine
Lehre wie die antike von dem Ethos der durch die Lage der Halbtöne
unterschiedenen Oktavskalen (Dorisch, Phrygisch, Lydisch u. s. w.), in
denen sich der Charakter der Völkerschaften widerspiegeln sollte,
deren Namen sie trugen, würde heute nicht allzuviel Gläubige finden;
auch die naive Musikästhetik des 18. Jahrhunderts (Mattheson), welche
in den verschiedenen Sätzen der damaligen Suiten bestimmte Affekte
ausgedrückt sah, z. B. in der Courante die »süße Hoffnung«, in der
Allemande »das Bild eines zufriedenen Gemütes, das sich an guter
Ordnung und Ruhe ergötzet«, in der Anglaise (Country Dance) »Eigen-
sinn, doch mit ungebundener Großmut und Gutherzigkeit«, in der
Polonaise »Offenherzigkeit und gar freies Wesen«, in der Sarabande
»Ehrsucht«, in der Chaconne »Ersättigung« u. s. w., würde sich
heute nicht mit Erfolg auffrischen lassen. Immerhin gibt aber doch
die Möglichkeit der Aufstellung solcher Lehren in Zeiten einer ein-
fachen Kunstübung, die noch mit einer beschränkten Anzahl scharf
geschnittener Typen des Ausdrucks zu rechnen gewöhnt war, zu
denken. Wenn auch heute noch jeder nur ein wenig musikalisch Ge-
schulte nach wenigen Takten bestimmt ein Menuett, eine Gavotte,
einen Walzer, einen Trauermarsch oder eine Gondoliera erkennt, auch
 
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