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"Unter der GrasNarbe" <Veranstaltung, 2014, Hannover>; Schomann, Rainer [Hrsg.]; Schormann, Michael Heinrich [Hrsg.]; Wolschke-Bulmahn, Joachim [Hrsg.]; Winghart, Stefan [Hrsg.]; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; VGH-Stiftung [Hrsg.]; Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur [Hrsg.]; Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Unter der GrasNarbe: Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema : Dokumentation der Tagung vom 26.-29. März 2014 in Hannover — Petersberg: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Heft 45.2015

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Zimmermann, Moshe: "Am Bahnsteig der Erinnerung": jüdische Räume - erinnerungsreiche Leere
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https://doi.org/10.11588/diglit.51271#0013
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Mosche Zimmermann

„Am Bahnsteig der Erinnerung". Jüdische Räume - Erinnerungsreiche Leere

„Am Bahnsteig der Erinnerung" - dieser Titel lehnt
sich an zwei Zeilen aus Erich Kästners Gedicht „Das
Eisenbahngleichnis" aus dem Jahre 1932 an. Wenige
Monate nach Erscheinen des Gedichts erhielten die
Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. In dem
Gedicht heißt es: „Die Toten stehen stumm / am
Bahnsteig der Vergangenheit."1
Die Toten stehen in meinem Zusammenhang nicht
nur stumm am Bahnsteig, sondern für den Rei-
senden sind sie auch meist unsichtbar, weil selbst
ihre Lebenswelten mit jeglichen Spuren ausradiert
wurden. Der Zug hält nicht eigentlich am Bahnsteig
der Vergangenheit, sondern „nur" am Bahnsteig der
Erinnerung, um dann rasch weiterzufahren. Die Reise
kann die Vergangenheit nicht rekonstruieren. Sie
kann und will Verluste allein in Erinnerung bringen.
Nur wie ruft man, was gemordet, vernichtet oder
zerstört worden ist, außer durch Worte und Bilder
ins erinnernde Bewußtsein zurück? Wie gestaltet
man einen abstrakten Raum der Erinnerung, einen
Grabstein- und Friedhofsersatz?
Als ikonographische Symbole sind die Bahngleise und
der Bahnsteig, die Rampe von Auschwitz-Birkenau,

zu Erinnerungsorten geworden. Das von Kästner
gebrauchte Bild der stummen Toten am Bahnsteig der
Vergangenheit findet seinen stärksten Ausdruck eben
an diesem Ort der Erinnerung. Nicht das gesamte
Gebiet des Lagers, nicht die Gaskammern oder die
Krematorien, sondern gerade der Bahnsteig, das Gleis,
die Rampe und das Tor zum Lager Auschwitz-Birkenau
wurden signifikante Zeichen des industrialisierten
Massenmordes. Diese Ikone zeigt weder Opfer
noch Täter, sondern einen menschenleeren Ort, der
an den Tod von Millionen von Menschen erinnert.
Der Bahnsteig, ein unbeweglicher Ort, verweist auf
ermordete Menschen, die eben hierhin vertrieben,
verschickt und verfrachtet worden waren. Wie
gestaltet man einen Raum der Erinnerung, der auch
diese Bewegung und Dynamik zum Ausdruck bringen
kann?
Wesen und Ziel der „Endlösung" war die Ausrottung
der Juden, damit aber auch die Vernichtung des
jüdischen Volkes und seiner Lebenswelten - Institu-
tionen, Schulen, Gebäude, Bücher, Philosophie, Sitten
und Traditionen. Es ging nicht nur um materielle
Vernichtung - Menschen wurden ermordet, Häuser
zerstört, Bücher verbrannt -, sondern vor allem


1 S-Bahn-Station Berlin-Wannsee mit Zug in Richtung Oranienburg, 2015. Foto: Max Jung.
 
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