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"Unter der GrasNarbe" <Veranstaltung, 2014, Hannover>; Schomann, Rainer [Hrsg.]; Schormann, Michael Heinrich [Hrsg.]; Wolschke-Bulmahn, Joachim [Hrsg.]; Winghart, Stefan [Hrsg.]; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; VGH-Stiftung [Hrsg.]; Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur [Hrsg.]; Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Unter der GrasNarbe: Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema : Dokumentation der Tagung vom 26.-29. März 2014 in Hannover — Petersberg: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Heft 45.2015

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Wiedemann, Wilfried: Verwaiste Erinnerungsorte: jüdische Friedhöfe auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen
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https://doi.org/10.11588/diglit.51271#0129
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125

Wilfried Wiedemann
Verwaiste Erinnerungsorte-
Jüdische Friedhöfe auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen

Der Schutz der Totenruhe auf jüdischen Friedhöfen,
die im Hebräischen BET OLAM (Haus der Ewigkeit)
heißen, ist eine heilige Pflicht der Lebenden. In
Deutschland schützten Juden und die von ihnen ge-
gründeten Kultusgemeinden die Ruhe der Toten
seit Jahrhunderten. Als die Juden durch das NS-
Regime begleitet von breiter gesellschaftlicher Zu-
stimmung aus Deutschland vertrieben oder in
die Mordzentren der Diktatur deportiert wurden,
verwaisten ihre Friedhöfe. Dass trotzdem nahezu alle
jüdischen Friedhöfe das NS-Regime, wenn auch stark
beschädigt und vielfach geschändet, überdauerten
und als bedeutende Zeichen jüdischer Kultur in
Deutschland erhalten blieben, war dem dafür noch
rechtzeitigen Untergang der Diktatur zu verdanken.
Allerdings hätten die politischen Gemeinden die
jüdischen Friedhöfe, diesen „Schandfleck", wie
ein Bürgermeister an den Deutschen Gemeindetag
schrieb,1 am liebsten schon mit dem Beginn der NS-
Herrschaft enteignet, eingeebnet und anderweitig
genutzt. Doch ließen sich die Wünsche der politischen
Gemeinden nicht durchsetzen, weil eine gesetzliche
Ruhezeit von 30 Jahren nach der letzten Beerdigung
dagegen stand, worüber der Deutsche Gemeindetag
zahlreiche der anfragenden Kommunen informierte.2
Diese seuchenhygienisch begründete Vorschrift
galt generell für Friedhöfe in Deutschland, somit
auch für jüdische und schützte die Gräber, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, vor Eingriffen in
den Boden. Die Vorschrift bewahrte jedoch nicht die
über dem Erdboden liegenden Friedhofsanlagen vor
der Zerstörung. So ordnete der Bürgermeister von
Stade 1940 den Abtransport der Grabsteine und die
Einebnung der Gräber auf dem jüdischen Friedhof
an, unterließ jedoch tiefere Eingriffe in den Boden.3
Ironischerweise schützte auch der Antisemitismus die
jüdischen Friedhöfe eine Zeit lang vor der Zerstörung,
denn als die durch Vertreibungen kleiner gewordenen
jüdischen Gemeinden kaum noch in der Lage waren
ihre Friedhöfe zu pflegen, nahmen die politischen
Gemeinden eine angebliche Verwahrlosung der
Friedhöfe zum Anlass, deren Enteignung zu fordern.
Auf eine Anfrage der Stadt Peine wies der Deutsche
Gemeindetag die Stadt im Mai 1941 auf die Mög-
lichkeit eines Enteignungsverfahrens hin, gab aber
zugleich auch folgendes zu bedenken: „Wenn der
Friedhof dann aber geschlossen sein sollte, käme die
Gemeinde in die unangenehme Lage, die Bestattung
der Juden auf einem der anderen Friedhöfe gestatten
zu müssen." Folglich schloss das Schreiben mit dem
Ratschlag, den jüdischen Friedhof im Interesse der

Gemeinde erst dann zu schließen, „wenn mit der
Bestattung von Juden nicht mehr gerechnet werden
muss."4 Lange mussten die Städte und Gemeinden
nicht mehr darauf warten, denn die Deportation der
Juden in die von den Deutschen angelegten Ghettos
und Mordzentren im Osten begann im Oktober 1941.
Im Februar 1942 schrieb der Oberbürgermeister
der Stadt Ludwigsburg an den Gemeindetag: Ihm
sei „unverständlich, daß man Bedenken trägt, die
jüdischen Friedhöfe zu entwidmen, nachdem man
in der Frage der Evakuierung der Juden ohne lange
Umschweife gehandelt hat."5 Doch wagte er, so wie
auch die meisten anderen Hauptverwaltungsbeamten,
keinen Alleingang, sondern forderte eine Regelung
von oben. Diese kam Ende 1942 von Heinrich Himmler,
der als Chef des Reichssicherheitshauptamtes sowohl
die Aufsicht über die Reichsvereinigung der Juden
ausübte als auch die Deportationen der Juden in
die Mordzentren organisierte. Heinrich Himmler
befahl der Reichsvereinigung, den politischen Ge-
meinden die jüdischen Friedhöfe zur Übernahme
anzubieten. Jedoch nicht wie von den politischen
Gemeinden erwartet als Geschenk, sondern viel-
mehr zum Kauf. Weil der Reichsfinanzminister
angeordnet hatte, dass die Erlöse aus dem Verkauf
der Friedhöfe in seine Kasse fließen sollten, wurden
sie nicht zum Schnäppchenpreis angeboten, son-
dern zum ortsüblichen Grundstückswert. Der Reichs-
finanzminister erschwerte die Verhandlungen noch
dadurch, dass er mit dem Kaufvertrag die Gemeinden
verpflichten wollte, spätere Ansprüche der Eigentümer
an den Grabsteinen aus der Gemeindekasse zu be-
gleichen. In der Folge kam es zu langwierigen Ver-
handlungen. Viele Verträge blieben nur schwebend
wirksam, auch wenn die politischen Gemeinden die
Friedhofsgrundstücke bezahlt hatten, weil dieZeit nicht
ausreichte, um sie bis Kriegsende als neue Eigentümer
ins Grundbuch einzutragen. Erst mit einem Erlass vom
6. Januar 1945 erleichterte das Reichsministerium
der Finanzen die Eigentumsübertragung auf die poli-
tischen Gemeinden. Da war es nun definitiv zu spät,
um die Grabsteine abzuräumen und die Grundstücke
anderweitig zu nutzen.
So überdauerten, von wenigen Ausnahmen abge-
sehen, die jüdischen Friedhöfe in Deutschland das
NS-Regime, allerdings nicht unbeschädigt, denn Fried-
hofsschändungen hatten vielerorts zu irreparablen
Schäden geführt. Auch staatlicher Vandalismus hatte
seinen Teil beigetragen. Ende 1942 waren wegen
des kriegsbedingten Rohstoffmangels Zäune und
 
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