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"Unter der GrasNarbe" <Veranstaltung, 2014, Hannover>; Schomann, Rainer [Hrsg.]; Schormann, Michael Heinrich [Hrsg.]; Wolschke-Bulmahn, Joachim [Hrsg.]; Winghart, Stefan [Hrsg.]; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; VGH-Stiftung [Hrsg.]; Zentrum für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur [Hrsg.]; Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Unter der GrasNarbe: Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema : Dokumentation der Tagung vom 26.-29. März 2014 in Hannover — Petersberg: Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG, Heft 45.2015

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Küster, Hansjörg: Die „Potentielle natürliche Vegetation" als Aspekt der Freiraumplanung der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.51271#0039
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Hansjörg Küster
Die „Potentielle natürliche Vegetation" als Aspekt der Freiraumplanung
der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts

Wissenschaft, Planung und Politik
In den 1930er Jahren trafen beim Umgang mit Frei-
räumen verschiedene Interessen aus Wissenschaft,
Planung und Politik aufeinander. Der junge Naturwis-
senschaftler Reinhold Tüxen hatte bei dem Schweizer
Josias Braun-Blanquet die Methode der Pflanzenso-
ziologie kennengelernt, über die es möglich wurde,
Vegetation griffig zu charakterisieren und zu katego-
risieren.' Aufbauend auf dieser Methode wurde der
Versuch unternommen, die „Potentielle natürliche
Vegetation" einzelner Gebiete zu ermitteln.2 Mit ei-
nem ähnlichen Ansatz hatte in den USA Frederic E.
Clements die Theorie der Klimaxvegetation entwi-
ckelt, die sich abhängig vom Klima als Schlussvege-
tation einstellen soll.3 Aus der Pflanzensoziologie
und der Interpretation ihrer Ergebnisse war damit
ein neuer Forschungsansatz entwickelt worden, über
den Vegetation kartiert und charakterisiert werden
konnte. Während die aktuelle Vegetation real erfasst
werden konnte, ergab sich die „Potentielle natürliche
Vegetation" nur aus einer Interpretation der erhobe-
nen Daten.
Auf Forschungen der Pflanzensoziologen wurden
Planer aufmerksam, die dafür eintraten, sowohl im
Forst als auch an technischen Bauwerken möglichst
die natürliche Vegetation zu fördern oder zu pflanzen.
Aus der Feder des Forstpolitikers Arnold Freiherr von
Vietinghoff-Riesch stammt ein geradezu hymnisches
Urteil über die Pflanzensoziologie. In seiner Tharand-
ter Habilitationsschrift „Naturschutz. Eine nationalpo-
litische Kulturaufgabe" von 1936 ist zu lesen:
„Es ist unsere tiefste Überzeugung, daß die Pflan-
zensoziologie als Wegbereiterin einer neuen Na-
turvollkommenheit, eines umfassend und neuge-
schauten Naturschutzes eine hohe Bestimmung
zu lösen hat. Diese Wissenschaft weist uns ja
den Weg, den jede Pflanzengesellschaft entwick-
lungsmäßig bis zu ihrem Vollendungsstadium (Kli-
max) nimmt; sie gibt damit auch die Diagnose für
den Natürlichkeitswert eines jeden Waldbildes.
(...) Die Pflanzensoziologie ist daher die natürli-
che Verbündete des Naturschutzes und somit der
Forstpolitik, sie besitzt den Schlüssel für die Be-
urteilung menschlicher Eingriffe in das vegetative
Waldleben."4

Die von Vietinghoff geäußerten Erwartungen, die
von vielen anderen geteilt wurden (und zum Teil noch
werden), können aus wissenschaftlicher Sicht nicht
erfüllt werden. Denn in der Pflanzensoziologie geht
es zunächst einmal darum, nach einem einheitlichen
Muster Vegetationsaufnahmen anzufertigen, in de-
nen nicht nur der Artenbestand aufgezeigt wird, son-
dern auch der Deckungsgrad einzelner Pflanzenarten.
Auf diese Weise wird aus einer Vegetationsaufnahme
die Häufigkeit einzelner Arten ersichtlich. Einzelne
Aufnahmen werden mit anderen verglichen, geordnet
und typisiert: Auf ähnlichen Wuchsorten stößt man
auch auf ähnliche Vegetationsbestände, beispielswei-
se findet man auf armen Böden in vielen Gebirgen,
Hügelländern und Ebenen Europas ein Luzulo-Fage-
tum, einen Hainsimsen-Buchenwald. Dass ein solcher
Wald auf Dauer als „Schlussgesellschaft" besteht oder
sich in Zukunft dazu entwickelt, ist eine Interpretati-
on pflanzensoziologischer Resultate, die richtig sein
kann, aber nicht muss. Denn aus einer Momentauf-
nahme eines Vegetationsbestandes kann nicht auto-
matisch abgeleitet werden, wie dieser in Zukunft aus-
sehen kann. Dafür gibt es lediglich Erfahrungswerte
oder Wahrscheinlichkeiten, die dem Experten als sol-
che vertraut sind.
Im Gedankenaustausch zwischen Wissenschaftlern
und Planern entwickelte sich die von Vietinghoff ge-
äußerte Überzeugung: Über die Pflanzensoziologie sei
die „Naturvollkommenheit" zu entdecken. Und daher
sei sie die „natürliche Verbündete des Naturschutzes
und somit der Forstpolitik". Das hört sich gut an, ist
aber ein Indiz für totalitäres Denken: Die Pflanzenso-
ziologie als Naturwissenschaft, der Naturschutz als
Wunsch vieler Menschen und eine von Regierungssei-
te gesteuerte Forstpolitik könnten unter einem Dach
friedlich vereint sein. An einem solchen Kompromiss
konnte man aus unterschiedlichen Gründen interes-
siert sein. Von staatlicher Seite holt man ein von vie-
len Bürgern unterstütztes Anliegen, den Naturschutz
nämlich, ins Boot. Die Bürger sehen, dass der Staat
für ihr Anliegen sorgt. Und die Wissenschaft kann auf
großzügige Unterstützung staatlicher Stellen und der
Öffentlichkeit hoffen, wenn sie sich auf den angebo-
tenen Kompromiss einlässt und Daten bereitstellt, mit
denen man in der Praxis arbeiten kann. Den Interes-
senten an einem Kompromiss zwischen Wissenschaft,
Planung, Staat und Bürgern mag immer wieder klar
geworden sein, dass er nicht auf einfache Weise zu
erreichen ist. Aber dies wurde immer wieder nicht
thematisiert, weil alle Seiten vom Kompromiss profi-
tierten.
 
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