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Wie aber wird bei all diesen Angeboten eigentlich der
circulus vitiosus des innerweltlich Selbstreferentiellen
verhindert, das heißt, wo bleibt der außerweltlich-uni-
verselle Bezug, ohne den Religion und Welt-Anschau-
ung/-Erklärung nie auskam?
IV.
Damit komme ich zurück zum Gesamtkunstwerk ,Le
Sacre du printemps' und seinem Kontext, dem es ent-
stammt, nämlich der Künstlerkolonie in Talashkino bei
Smolensk von Mariya Tenisheva, die dort auch den
.Ternple of the Holy Spirit' entworfen hatte.13 Aus-
gemalt hat ihn Nicholas Roerich, der nicht nur Maler,
sondern auch Historiker, Fotograf, Anthropologe, Ar-
chäologe und Philosoph war. Er war der Schöpfer des
Szenarios von ,Le Sacre', das in jenem Talashkino-Kli-
ma gedieh, das aber allgemein europäischen Trends
entsprach: nämlich der Sehnsucht nach Ganzheit,
nach Gesamtkunstwerk, nach neuer Weltanschau-
ung, nach Mythen und Mysterien; und das ganze
Spektrum von Esoterik, Theosophie, Symbolismus14
und prähistorisch-archaischen und paganen Interes-
sen verbanden sich auch in Russland besonders stark
mit Neo-Nationalismus.
Aber: Würden wir denn mit ,Le Sacre du printemps'
wirklich russischen Neo-Nationalismus assoziieren!?
Ist ,Le Sacre' nicht die ,Avatar of Modernity'15schlecht-
hin, die Herabkunft des Gottes .Modernität' in Men-
schen- (oder sonstiger) -Gestalt, ist es denn nicht das
Non-plus-ultra an modernem „Jahrhundertwerk",16
wie es doch auch eingestuft wird!? Oder ist dieses
Musikstück durch seine Skandalisierung von Beginn
an erfolgreich seines eigentlichen Kontextes entrissen
worden, was durchaus romantisch-moderner Künst-
ler-Heroisierung entsprechen würde? Wird deshalb
allgemein auch ,Le Sacre du Printemps' allein nur mit
Igor Strawinsky identifiziert, obwohl es tatsächlich
aber als teamwork17 und in einem Klima entstanden
und nur so auch möglich geworden ist, das janus-
gesichtig18 gewissermaßen aus Talashkino und Paris
bestand, das mit spätromantischem Orchester und
überdimensionaler Schlagzeug-Sektion19 aufgeführt
wurde bzw. wird, das sich als paganes Opferritual
und in apodiktisch-asymmetrischer ostinato-Rhythmik
darbietet, das also aus Regression und Progression20
besteht. Dieses Janusgesichtige gehört aber zur .mo-
dernen Grundverfasstheit' und ihren ideologisch-viel-
fältigen Einfärbungen.
Das Skandalträchtige sollte 60 Jahre später in John
Neumeiers Inszenierung in Frankfurt (1972) durch die
Primaballerina Beatrice Cordua noch einmal dadurch
gesteigert werden, dass sie das Schluss-Solo - also als
das den Göttern zu opfernde und sich zu Tode tanzen-
de Mädchen - nackt tanzte (Abb.7).21
Entsprach Beatrice Cordua mit dieser Gebärde ver-
breiteten Körperkult-Exaltationen oder hat sie damit
die .moderne Grundverfasstheit' nackt, schonungslos
und bar jeglicher ideologischer Verkleidung oder Ver-
einnahmung zum Ausdruck gebracht? Oder folgte sie
unbewusst oder bewusst und janusgesichtig beiden
Haltungen? Kann nun aber dieser ,Akt' anders inter-
pretiert werden als eine - letztlich - ekstatisch-exzes-
sive Äußerung von Überwältigtsein? Überwältigt an-
gesichts einer auf Innerweltliches beschränkten bzw.
verbannten, ausweglos erscheinenden Situation? So,
wie sie Theodore Gericault in seiner Zeichnung von
1815 ,Mord in einem Boot' skizziert oder in seinem
Hauptwerk ,Das Floß der Medusa' gemalt hat und wie
sie in einer Ausstellung in Frankfurt zu sehen waren?22
Lassen sich die Vorstudien zu seinem .Floß der Me-
dusa'23 oder andere Zeichnungen Gericaults mit dem
Körperausdruck der Cordua vergleichen? Ist das Floß
Symbol einer „dahintreibenden Gesellschaft" und -
um es mit Hanno Rauterberg24 noch aktueller ins Hier
und Jetzt zu erweitern - scheinen hinter dem .Floß der
Medusa' die Schiffe von Lampedusa auf?
V.
Gericault hat sich mit der „Grausamkeit des Alltägli-
chen"25 auseinandergesetzt, wie nur wenige, und die
„Geburt der Romantik aus dem Geist der Revoluti-
on"26 begleitet. Als Maler des frühen 19. Jahrhunderts
versuchte er sich „sezierend und skizzierend ein Bild
des Homo sapiens" zu verschaffen. Nach „der gro-
ßen, blutigen Revolution, [...] am Beginn der postro-
yalen, postreligiösen Epoche, suchte man neuen Halt:
tief im Individuum. Der Mensch begann, den Men-
schen [...] zu zerlegen, um endlich zu verstehen, was
seinesgleichen ausmacht, wo die Seele wohnt, wo der
Verstand, wo das Bewusstsein." Heißt also „Selbst-
erkenntnis [...] Selbstzerstückelung"?27 Entstammen
seine .anatomischen Fragmente' einer .modernen
Grundverfasstheit' zu fragmentierter Wahrnehmung?
„Erlaubte" erst „die Emanzipation des Intellekts vom
Gefühl [...] dem Menschen, mit gutem Gewissen un-
menschlich zu sein", wie es Michael Kunze bezogen
auf das 17. Jahrhundert formuliert und Ulrich von
Hehl28 im Hinblick auf das Dritte Reich aufgegriffen
hat?
Bei Gericault, als wahrhaft moderner Künstler „ganz
und gar auf sich selbst zurückgeworfen", merkt man
„seinen Bildern an, wie schwer sie es mit der neuen
Freiheit haben, wie sie versuchen, neue Bedeutung zu
erlangen, der eigenen Beliebigkeit zu entkommen".
Er spürte, „was noch heute zu spüren ist: dass eine
Kunst, die nicht über sich selbst hinausweist, keine
Kunst ist. Fast wäre Gericault über diese Erfahrung der
Kontingenz, der unendlichen Möglichkeiten, verrückt
geworden. [...] Er fand sich wieder bei den Irren" für
die er sich zu interessieren begann. Doch seine Bilder
Wie aber wird bei all diesen Angeboten eigentlich der
circulus vitiosus des innerweltlich Selbstreferentiellen
verhindert, das heißt, wo bleibt der außerweltlich-uni-
verselle Bezug, ohne den Religion und Welt-Anschau-
ung/-Erklärung nie auskam?
IV.
Damit komme ich zurück zum Gesamtkunstwerk ,Le
Sacre du printemps' und seinem Kontext, dem es ent-
stammt, nämlich der Künstlerkolonie in Talashkino bei
Smolensk von Mariya Tenisheva, die dort auch den
.Ternple of the Holy Spirit' entworfen hatte.13 Aus-
gemalt hat ihn Nicholas Roerich, der nicht nur Maler,
sondern auch Historiker, Fotograf, Anthropologe, Ar-
chäologe und Philosoph war. Er war der Schöpfer des
Szenarios von ,Le Sacre', das in jenem Talashkino-Kli-
ma gedieh, das aber allgemein europäischen Trends
entsprach: nämlich der Sehnsucht nach Ganzheit,
nach Gesamtkunstwerk, nach neuer Weltanschau-
ung, nach Mythen und Mysterien; und das ganze
Spektrum von Esoterik, Theosophie, Symbolismus14
und prähistorisch-archaischen und paganen Interes-
sen verbanden sich auch in Russland besonders stark
mit Neo-Nationalismus.
Aber: Würden wir denn mit ,Le Sacre du printemps'
wirklich russischen Neo-Nationalismus assoziieren!?
Ist ,Le Sacre' nicht die ,Avatar of Modernity'15schlecht-
hin, die Herabkunft des Gottes .Modernität' in Men-
schen- (oder sonstiger) -Gestalt, ist es denn nicht das
Non-plus-ultra an modernem „Jahrhundertwerk",16
wie es doch auch eingestuft wird!? Oder ist dieses
Musikstück durch seine Skandalisierung von Beginn
an erfolgreich seines eigentlichen Kontextes entrissen
worden, was durchaus romantisch-moderner Künst-
ler-Heroisierung entsprechen würde? Wird deshalb
allgemein auch ,Le Sacre du Printemps' allein nur mit
Igor Strawinsky identifiziert, obwohl es tatsächlich
aber als teamwork17 und in einem Klima entstanden
und nur so auch möglich geworden ist, das janus-
gesichtig18 gewissermaßen aus Talashkino und Paris
bestand, das mit spätromantischem Orchester und
überdimensionaler Schlagzeug-Sektion19 aufgeführt
wurde bzw. wird, das sich als paganes Opferritual
und in apodiktisch-asymmetrischer ostinato-Rhythmik
darbietet, das also aus Regression und Progression20
besteht. Dieses Janusgesichtige gehört aber zur .mo-
dernen Grundverfasstheit' und ihren ideologisch-viel-
fältigen Einfärbungen.
Das Skandalträchtige sollte 60 Jahre später in John
Neumeiers Inszenierung in Frankfurt (1972) durch die
Primaballerina Beatrice Cordua noch einmal dadurch
gesteigert werden, dass sie das Schluss-Solo - also als
das den Göttern zu opfernde und sich zu Tode tanzen-
de Mädchen - nackt tanzte (Abb.7).21
Entsprach Beatrice Cordua mit dieser Gebärde ver-
breiteten Körperkult-Exaltationen oder hat sie damit
die .moderne Grundverfasstheit' nackt, schonungslos
und bar jeglicher ideologischer Verkleidung oder Ver-
einnahmung zum Ausdruck gebracht? Oder folgte sie
unbewusst oder bewusst und janusgesichtig beiden
Haltungen? Kann nun aber dieser ,Akt' anders inter-
pretiert werden als eine - letztlich - ekstatisch-exzes-
sive Äußerung von Überwältigtsein? Überwältigt an-
gesichts einer auf Innerweltliches beschränkten bzw.
verbannten, ausweglos erscheinenden Situation? So,
wie sie Theodore Gericault in seiner Zeichnung von
1815 ,Mord in einem Boot' skizziert oder in seinem
Hauptwerk ,Das Floß der Medusa' gemalt hat und wie
sie in einer Ausstellung in Frankfurt zu sehen waren?22
Lassen sich die Vorstudien zu seinem .Floß der Me-
dusa'23 oder andere Zeichnungen Gericaults mit dem
Körperausdruck der Cordua vergleichen? Ist das Floß
Symbol einer „dahintreibenden Gesellschaft" und -
um es mit Hanno Rauterberg24 noch aktueller ins Hier
und Jetzt zu erweitern - scheinen hinter dem .Floß der
Medusa' die Schiffe von Lampedusa auf?
V.
Gericault hat sich mit der „Grausamkeit des Alltägli-
chen"25 auseinandergesetzt, wie nur wenige, und die
„Geburt der Romantik aus dem Geist der Revoluti-
on"26 begleitet. Als Maler des frühen 19. Jahrhunderts
versuchte er sich „sezierend und skizzierend ein Bild
des Homo sapiens" zu verschaffen. Nach „der gro-
ßen, blutigen Revolution, [...] am Beginn der postro-
yalen, postreligiösen Epoche, suchte man neuen Halt:
tief im Individuum. Der Mensch begann, den Men-
schen [...] zu zerlegen, um endlich zu verstehen, was
seinesgleichen ausmacht, wo die Seele wohnt, wo der
Verstand, wo das Bewusstsein." Heißt also „Selbst-
erkenntnis [...] Selbstzerstückelung"?27 Entstammen
seine .anatomischen Fragmente' einer .modernen
Grundverfasstheit' zu fragmentierter Wahrnehmung?
„Erlaubte" erst „die Emanzipation des Intellekts vom
Gefühl [...] dem Menschen, mit gutem Gewissen un-
menschlich zu sein", wie es Michael Kunze bezogen
auf das 17. Jahrhundert formuliert und Ulrich von
Hehl28 im Hinblick auf das Dritte Reich aufgegriffen
hat?
Bei Gericault, als wahrhaft moderner Künstler „ganz
und gar auf sich selbst zurückgeworfen", merkt man
„seinen Bildern an, wie schwer sie es mit der neuen
Freiheit haben, wie sie versuchen, neue Bedeutung zu
erlangen, der eigenen Beliebigkeit zu entkommen".
Er spürte, „was noch heute zu spüren ist: dass eine
Kunst, die nicht über sich selbst hinausweist, keine
Kunst ist. Fast wäre Gericault über diese Erfahrung der
Kontingenz, der unendlichen Möglichkeiten, verrückt
geworden. [...] Er fand sich wieder bei den Irren" für
die er sich zu interessieren begann. Doch seine Bilder