9 Inneres nach Westen.
Daß in Idensen nur die gewölbten Bereiche der Kölner Chor-
anlage rezipiert wurden, liegt zum einen darin begründet, daß
die Sigwardskirche als reiner Gewölbebau angelegt ist, und
zum anderen, daß die Apsis und das angrenzende, tonnenge-
wölbte Chorjoch in der Kapitolskirche sowohl vom Gewölbe
als auch von der Gliederungsstruktur der Binnenchorarkatur
her eine vom übrigen flachgedeckten Chor durch einen Gurt-
bogen getrennte Raumeinheit bildeten.27
Es wurde gezeigt, daß die Chorapsis des Sigwardbaues in
Idensen als Formenzitat der Umgangschorarchitektur der Köl-
ner Kirche St. Maria im Kapitol zu begreifen ist. Die formalen
Abweichungen von dem Vorbild sind - wie wir sahen - in der
Architekturkonzeption der Sigwardskirche selbst begründet.
Vor allem aber resultieren sie aus jener Bauaufgabe, derzu-
folge die Chorapsis in Idensen als Abbreviatur der Kölner
Umgangschorarchitektur zu gestalten war. Die dezidierte Aus-
wahl der Architekturelemente ermöglichte es dabei, trotz der
Formen reduktion das Abbild der Umgangschorarchitektur der
Kölner Kapitolskirche zu erkennen.
Welche Relevanz aber hatte die Kirche St. Maria im Kapitol,
insbesondere deren Ostkonche, für den Bischof Sigward von
Minden, daß er in seiner Kirchenarchitektur diesen Bezug zu
der Kölner Dreikonchenanlage formulierte?28 In diesem Zu-
sammenhang gilt es zunächst festzuhalten, daß die drei archi-
tektonisch fast gleichartigen Konchen der Ostanlage von St.
Maria im Kapitol einer in der Funktionsverteilung begründeten
Hierarchie unterlagen. So waren die Querarme von Anfang
an Haupteingangsräume,29 und nur dem Ostarm kam die
Funktion des Chores zu.30 Jener in der Funktion der Konchen
begründeten Hierarchie entsprach ein hierarchisches Ausstat-
tungsprogramm. So bildete die Ostkonche, als Bereich des
Hochaltares, zusammen mit der Vierung, wo sich das Grab
der Kirchengründerin Plektrudis und der Kreuzaltar befanden,
eine „deutlich akzentuierte, liturgische ,Hauptzone‘ ”,31 der die
Seitenkonchen untergeordnet waren.
Der Hervorhebung der Ost-West-Achse entsprechend, war
auch der Umgang der Ostkonche - im Unterschied zu den
Umgängen der Querarme - durch Ausstattungsstücke ausge-
zeichnet. Während Rahtgens nur auf einen neben dem Taber-
nakel befindlichen Katharinenaltar verweist32 macht A. Kulen-
kampff neuerdings auf die bei Aegidius Gelenius erwähnten
Sarkophage aufmerksam, die in die Wände des Chorumgan-
ges von St. Maria im Kapitol eingelassen waren und Reliquien
von Märtyrern der thebäischen Legion und der 11 000 Jung-
frauen bargen.33 Die Verehrung der hll. Jungfrauen hat in St.
Maria im Kapitol eine lange Tradition. So wurden diese Märty-
rerinnen vermutlich schon seit den Anfängen des Klosters in
der Mitte des 10. Jahrhunderts verehrt; im 12. Jahrhundert
galt ihnen neben St. Gereon, St. Severin und St. Kunibert als
„alte” Heilige Kölns ein eigenes Gebet.34 Aufgrund dieser Ver-
ehrungstradition ist anzunehmen, daß es in St. Maria im Kapi-
tol bereits seit der Frühzeit auch einen Altar der 11000 Jung-
frauen gab.35
Galt somit die Kirche St. Maria im Kapitol offensichtlich als
Ort der Verehrung der hll. Jungfrauen, so scheint sich gerade
hierin ein Bezug zu dem Kirchenbau Sigwards von Minden
zu manifestieren, war doch jene bischöfliche Eigenkirche den
11000 Jungfrauen geweiht. Schriftliche Erwähnungen des
Jungfrauenpatroziniums für die Kirche in Idensen finden sich
zwar erst seit der Bischofschronik des Hermann von Lerbecke
aus dem 14. Jahrhundert36 doch gibt eine auf der Westwand
der Kirche befindliche, in die Entstehungszeit des Baues da-
tierte Wandmalerei einen konkreten Hinweis, daß das Jung-
frauenpatrozinium bereits von Anfang an bestand.37 Die
Szene auf der Westwand (Abb. 9) zeigt in weiße Tuniken ge-
hüllte Frauen, die ihr Martyrium erwarten, das der Hunnenkö-
nig - dargestellt als thronender Herrscher - angeordnet hat.
Die Hinrichtung nimmt gerade ihren Anfang, indem ein Krieger
anhebt, die vor ihm knieende heilige Ursula zu enthaupten,
während ihre in einem Boot befindlichen Begleiterinnen dem
nahenden Tod entgegensehen. An die Darstellung des Marty-
riums der 11 000 Jungfrauen auf der Westwand der Kirche
knüpfen thematisch die Malereien der Langhauswände an,
die - in Frontalansicht - auf der Nordseite Ritterheilige mit
Märtyrerpalmen und auf der Südseite weltliche Heilige zeigen.
Die Ritterheiligen identifizierte Ehmke als Angehörige der The-
bäischen Legion,38 jener Kölner Märtyrerschar, die häufig im
Zusammenhang mit den 11000 Jungfrauen genannt wird.39
Im Unterschied zum Langhaus, dessen Wandmalereien somit
auf das Patrozinium der Kirche Bezug nehmen, sind die Male-
reien in der Chorapsis - dem hierarchischen Ausstattungspro-
gramm der Benediktiner entsprechend40 - der Darstellung
der Majestas Domini, den Protomärtyrern Stephanus und Lau-
rentius sowie heiligen Bischöfen vorbehalten.41
Der Kult der kölnischen Märtyrerinnen hatte zu Beginn des
12. Jahrhunderts eine Aktualisierung erfahren. Bei einer Befe-
stigungsmaßnahme an der kölnischen Stadtmauer im Jahre
1106 war ein römisches Gräberfeld entdeckt worden, das -
in der Nähe der St. Ursulakirche gelegen - sogleich als Be-
gräbnisstätte der kölnischen Märtyrerinnen identifiziert wurde.
Das immense Ausmaß des vermeintlichen Reliquienfundes
gab Anlaß zu großen Grabungskampagnen, die unter der
Initiative Norberts von Magdeburg im Jahre 1121 und der
Deutzer Benediktinerabtei in den Jahren 1155-1164 ihre Höhe-
punkte erreichten und weite Handelsaktivitäten um die Jung-
frauenreliquien entstehen ließen.
Von der Translationspolitik wurde jedoch die sächsische Re-
gion nicht sehr stark erfaßt. So zählt die vermutlich zwischen
1120-1129 anläßlich der Errichtung der Kirche in Idensen er-
folgte Übertragung von Jungfrauenreliquien42 - neben der
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