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Belvedere: Monatsschrift für Sammler und Kunstfreunde — 6.1924

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Dvořák, Max: Kunstbetrachtung: Vortrag, gehalten am Denkmalpflegetag, Bregenz 1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.55195#0141
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KUN STB ETR AC HTUN G
VORTRAG, GEHALTEN AM DENKMALPFLEGETAG. BREGENZ 1920
VON MAX DVORAK
Was man heute unter Kunstbetrachtung gewöhnlich versteht, ist, abgesehen von
Angaben über äußere geschichtliche Einordnung der Denkmäler, eine Stil- und formal-
geschichtliche Analyse. Sie beruht einmal auf einer Untersuchung der Kunstwerke in
ihrem Verhältnis zur Natur, das heißt man preist Werke, in denen die Natur treu
nachgeahmt wird, und hält für unentwickelt solche, bei denen dies nicht der Fall ist;
zweitens: man geht von der Betrachtung der Lösung bestimmter formaler Probleme
aus, die man mit der Lösung derselben Probleme in der vorangehenden oder folgenden
Zeit vergleicht. Der Kunsthistoriker geht da zum großen Teil wie ein Naturforscher
vor; er scheidet das Kunstwerk aus dem Gesamtbild des menschlichen Lebens aus und
beschreibt und zergliedert es als eine für sich selbst bestehende Tatsache, ähnlich etwa
wie der Botaniker eine Pflanze beschreiben und zergliedern würde.
Durch diese Methode ist unser Wissen zweifellos ungemein bereichert worden, doch
ohne daß unser seelisches Verhältnis zur alten Kunst wirklich vertieft worden wäre —
ja, ich habe oft die Beobachtung gemacht, daß die Menschen, denen man derartige
Erkenntnisse vermittelte, wenig innerlich gefördert wurden. Sie behielten nur bestimmte
äußere Formeln und Kategorien, sahen den Wald vor Bäumen nicht und wußten mit
dem bescheidenen Kirchlein ihres Heimatsortes, mit dem sie einst innige Empfindungen
verbunden hatten, nichts mehr anzufangen, da es sich der Anwendung der angelernten
Maßstäbe entzog.
Ich möchte nun versuchen, an einigen Beispielen einen Gesichtspunkt darzulegen, der
mir fruchtbarer zu sein scheint.
Zunächst als Einleitung einige Köpfe. Die Büste des jugendlichen Augustus, die Ver-
körperung des klassischen Begriffes der jugendlichen körperlichen Schönheit und Voll-
endung, wie er sich in Darstellungen der Götter und Fleroen ausgebildet hat. Und dann
zweihundert Jahre später die Büste des Kaisers Caracalla, in der uns die Porträtzüge
des Imperators wie beschattet durch den grausamen,' lauernden Blick, in dem Cäsaren-
wahn zu liegen scheint, entgegentreten. Und fünfzig Jahre später zwei altchristliche
Orantenfiguren aus den römischen Katakomben. In dieser Darstellung der Fürbitterinnen
der menschlichen Seelen im ewigen Leben hat die körperliche Schönheit und indivi-
duelle Porträthaftigkeit jede Bedeutung verloren, ja, die Körperlichkeit überhaupt,
Anmerkung der Redaktion: Zu wärmstem Danke sind wir den Herausgebern der hinterlassenen Schriften Dvoraks, Herrn
Dozenten Dr. Karl M. Swoboda und Herrn Dr. Johannes Wilde verpflichtet. Der Verlag R. Piper & Co., München, der
das ausschließliche Verlagsrecht über diesen Nachlaß besitzt, hat in entgegenkommender Weise die Erlaubnis zur Ver-
öffentlichung gegeben.

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