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Heft 6.


Das Buch für All e.

bewogen? Derselbe muß doch nothweudig bestochen
sein und der Verhaftete hatte kein Geld!"
„Hei r Kommissär, ich habe es nicht gethan. Mag
der Entflohene wieder ergriffen und verurtheilt wir-
ken, >vie er verdient - ich habe mich gänzlich und
für immer von ihm losgcsagt!"
„Er wird nicht wieder ergriffen werden," be-
merkte Pitt.
„Wissen Sie dies schon jetzt?" fragte der Frei-
herr.
Der Kommissär nick e zustimmend mit dem Kopfe.
„Es wüd nicht gewünscht," gab er zur Antwort.
„And der Wunsch ist von so hoher Stelle ansgegau-
gcn, daß er fnr uns einem Befehle gleich kommt."
Der Freiherr blickte den Komm ssär prüfend an.
Sprach derselbe die Wahrheit? — Der Entflohene
hatte freilich viele hochgestellte Freunde in der Resi-
denz gehabt — er war mit dem Minister verwandt.
„Für mich ist der Unglückselige todt," bemerite er.
„Und wenn er sich einer Unterstützung wegen an
Sie wendet?"
„Er ist für mich todt," wiederholte der Freiherr
noch einmal und nut voller Entschiedenheit.
„Ich weiß, daß Sie gewünscht haben, er möge
sich das Leben nehmen," warf Pitt ein.
Der Freiherr blickte betroffen auf.
„Ich habe es gewünscht." sprach er dann. „Ich
hoffte, er werde noch so viel Ehre besitzen, nm den
Tod der Schande vorznziehen — er ist ehrlos nnd
feige Zugluch, der erste Selditz, dem man dies nach-
sagen kann! — Ich bitte Sie, lassen Sie nns über
den Eularleten schweigen. Er hat mir den Rest mei-
nes Lebens verbittert — ich werde versuchen, ob ich
ihn vergessen kann."
Er begab sich mit dem Kommissär in den Garien
und langsam schritten sie dort auf und ab, bis Pitt
zur Stadt zurückkehrte. —
Es war längst des Freihcrrn Absicht gewesen, die
auszusnchen, an welcher der Entartete zuerst ehrlos
gehandelt hatte. Wie viel Unheil war aus dieser
eineu Thal entsprungen! Sie glich einem Felsblocke,
der aus Leichtsinn auf dem Gipfel eines Berges zum
Rollen gebracht, im Nnderstürzm nun Alles, was
sich ihm in den Arg stellt zertrümimrt! War be-
reits das Ende des Unh ils gekommen? — Wer
konnte cs wissen! Nur mit Baugen sah er der Zu-
lunst entgegen.
Konnte er das, was sein Neffe an der Tochter
se'ms Jugendfreundes verschuldet hatte, nicht sühnen?
Er würde cs bereits gethan haben, hätte nicht ein
Gedanke ihn zurück gehalten. Er hatte Elsen's Mut-
ter einst geliebt. Es war seine Absicht gewesen, ihr
seine Liebe zu gestehen nnd nm ihre Hand anzuhalten,
nur hatte er nicht den Muth dazu gesunden. Er,
der vierzigjährige Marn, hatte dem damals zwanzig-
jährigen schönen Mädchen gegenüber eine Befangenheit
empfunden, welche zu überwinden er nicht im Stande
gewesen war. Da Halle sein jüngerer Freund Stein
sich mit ihr verlobt und all' das Glück, welches er
sich im Geiste ansgemalt hacke, war mit einem Male
vernichtet.
Er hatte dem Freunde, dein cr seine stille Nei-
gung nie anvertrant, nicht zürnen können und doch
war er seit der Zeit nur selten mit ihm zusammen
gekommen. Die einst Geliebte hatte er nie wieder
gesehen.
Mit einem Herzen, welches auf kcku Glück mehr
hoffte, hatte er sich kurze Zeit daraus verheirathet,
nnd dennoch war er mit seiner Frau glücklich gewor-
den. Aus der Achtung, welche er ihr von Anfang
an entgegen getragen, war die innigste Liebe gewor-
den, und als er vor Jahren an ihrem offenen Grabe
gestanden, hatte er ihr die schmerzlichsten Thränen
nachgeweint. Ihr Tod war der erste und einzige
Schmerz gewesen, den sie ihm bereitet.
Sein altes Herz gehörte noch ganz seiner Fran,
er dachte an seine Jugendliebe nur noch, wie man
einer liebe n Erinnerung gedcnkt, allein Eins war ge-
blieben: das Gefühl der Befangenheit bei dein Ge-
danken, mit ihr wieder zusammen zu tresfeu. Trotz-
dem beschloß er nach M zu reisen und Elsa aufzu-
suchen uiw schon zwei Tage später führte er diesen
Entschluß aus. —
Trübe und schwere Tage hatte Elsa in dem Hause
des Professors durchlebt. Das Fieber war bei ihr
so hefiig ausgetreten, daß der Arsi selbst die Hofsuuug
ausgegebcu, daun Halle eie Kraft der Jugend doch
gesiegt. Sie war langsam gene en nnd machte bereits
wieder Spaziergänge im Gackeu und dem nahen Ge-
hölze. Sie war noch schöner geworden, ihr bleiches
Gepcht erchien wie v.rklärt, nnd dcr ernste, schmerz-
liche Ausdruck in ihren Zügen verlieh denselben einen
madonnenartigen Hauch.
Ihr Inneres war jedoch nicht genesen. Sie kl nute
nicht vergessen, daß sie nur zum Spielball benutzt war,
die Kränkung, welche ihr Stolz erfahren, hatte noch

nichts an Herbigkeit verloren, sie erschien sich wie ent-
ehrt, weil sie den Mann geliebt, der sie so schändlich
getäuscht.
Ihre Mutter, wckche, um sie zu Pflegen, nach M.
gekommen war, hatte vergebens Alles ausgeboten, um
sie das Geschehet e vergessen zu machen.
„Jh will es nicht vergessen!" rief Elsa mit einer
Reizbarkeit und Heftigkeit, welche früher nie bei ihr
hervorgetreten war. „Weshalb bin ich nicht ein
Mann, um die Schmach rächen zu können! Du weißt,
daß man mir meine Zurückhaltung und meinen Stolz
ost zum Vorwurfe geniacht — hat dies mich geschützt?
Darf Jeder ein unbescholtenes Mäechen ungestraft
kränken? Wer nimmt sich der Gekränkten au, wer
sühnt das Geschehene? Es ist ja nur das Herz einer
Bürgerlichen, mit dem ein Spiel getri ben ist!"
„Hat sich nicht der Lieutenant v. Plateu Deinet-
wegen mit dem Baron geschlagen?" warf die Mut-
ter ein.
„Weißt Du, ob er es meinetwegen gethan hat?"
warf Elsa ein. „Ist er nicht auch ein Adeliger?
Glaubt er nicht auch, daß in seinen Adern ein an-
deres nnd besseres Blut rinul? Ist das eine Sühne,
wenn er durch die Kugel des Barons verletzt ist?
Ich weiß nicht mehr, was Ehre und was Recht ist,
meine Begriffe sind verwirrt, mein Glaube an An-
dere ist verloren! Früher habe ich wohl geglaubt,
daß das höchste Glück der Frau an der Seite eines
Manins, in dem Wirken im Familienkreise sei —
dieser Glanbe ist dahin — denn ich kann nie wieder
einen Mann lieben!"
„Elsa, Dn bist erregt!" rief die Geheimeräthin.
„Deine Nerven sind durch die Krankheit noch ange-
griffen, Du wirst wieder anders denken und empsin
den, wenn Dn völlig genesen bist. Die Ruhe und
der Frieden Deines Herzens werden wiederkehrcn,
Du wirst vergesst n, was jetzt noch so heftig in Dir
stürmt. Wäre es nicht thöricht, allen Männern zu
zürnen, weil Einer Dich so tief gekränkt hat!"
Das schöne Mädchen schüttelte halb zwe selnd und
halb unwillig mit dem Kopfe.
„Er hat nnr deshalb mit meiner Ehre und mei-
nem Herzen zn spielen gewogt, weil ich ein hilfloses
Mädchen bin. Wir Frauen find jedoch nicht so
schwach, wenn wck nnr unsere Kraft üben. Ich will
nie von einem Manne abhängig sein, mein eigenes
Lebensgeschick will ich mir errungen, ich will mich
durchkämpfen, um 'elbstständig zu werden, um gleich-
berechtigt denen zur Se.te zu treleu, welche sich für
die Herren halten! Ist die Erde nicht groß genug,
um auch uns einen eigenen Platz zn gönnen? Ich
will ihn mir erringen!"
„Was willst Du beginnen?" fragte die Mutter-
besorgt.
„Ich weiß es noch nicht," gab Elsa zur Antwort.
„Ich sehne mich hinaus in das Leben, um meiue
Kraft zu stählen; auf das Glück des Familienlebens
habe ich verzichtet, ich will mir ein anderes Glück
suchen!"
Wäbreud dieses inneren Zackespaltes des unglück-
lichen Mädchens kam der Freiherr nach M. Kanin
war cr im Gasthofe angelangt, so verließ er denselb.n
wieder, nm sich zum Professor zu begebcu, seiu uu
geduldiger Sinu ließ ihm keine Ruhm Hätte er frei-
lich gewußt, daß Elsa's Muller iu dem Hause des
Professors we lte, so würde er weniger schnell geeilt
sein. Unbefangen betrat cr Werther's Garten nnd
schritt durch denselben hin. Sein Ange richte ans
den Beeten und den Blumen, ihn interessirle die Sorg-
falt, mit welcher dieselben gepflegt waren. Er näherte
sich einer Lanbe. Elsa trat in dem Augenblicke aus
derselben. Ueberrascht blieb er stehen, sein Auge ruhte
aus den schönen bleichen Zügen, aus der schlanken Ge-
stalt des Mädchens. War dies Alles ein Traumbild,
waren mehr denn 25 Jahre spurlos dahin geschwun-
den? Unwillkürlich griff er mit der Hand au die
Stirn.
„Selma!" rief er und eilte dem bleichen Mädchen
entgegen, welches ihn überra cht anblickte.
Eine hochgewachseue schlanke Frau trat aus der
Laube.
„Herr Freiherr, Sie vergessen, daß wir Beide um
eine Reihe Jahre älter geworden sind!" sprach sie
lächelnd. „Die Aehulichkeit meiner Tochter ^hat Sie
getäuscht. Ich hätte kaum geglaubt, daß Sie me n
Jugendbild so treu in Ihrer Erinnerung bewahrt
haben würden, nm so mehr freue ich mich, Sie wie-
der zu sehen."
Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Verlegen nnd befangen faßte der kleine Herr die
selbe. Er hatte sich durch die Aehulichkeit Elsa's mit
ihrer Mutter täuschen lassen, halte iu dem Augen
blicke, als ihm das schöne Mädchen entgegen getreten
war, gan; vergessen, wie viele Jalre eullchmundeu
waren, in seiner Brust tauchten alte Erinnerungen
und Empfindungen ans und erst als er in das ruhige

Gesicht der einst Geliebten blickte, wurde auch ei-
ruhiger und gewann seine Fassung wieder.
„Ich hatte ganz vergessen, daß ich alt geworden
bin und daß mein Haar ergraut ist," erwiderte ei.
„Wir haben uns seit langer, langer Zeit nicht gesehen,
Ihr Bild schn ebte mir noch so vor, wie ich Sie zum
zum letzten Male gesehen, da ist es wohl natürlich,
daß ich in dem Augenblicke dec Ueberraschung durch
die außerordentliche Aehulichkeit Ihrer Tochter ge-
täuscht wurde. Ich wußte nicht, daß Sie hier seien."
„Ich bin schon seit Wochen hier. Als Elsa er-
krankte, kam ich, um sie zu Pflegen und ich habe eine
schlimme und trübe Zeit hier durchlebt, selbst der Arzt
hatte sie aufgegeben nnd sie ist nur sehr, sehr lang-
sam genesen. Ihre frischen Wangen sind noch immer
nicht wiedergekehrt."
„Ich hoffe, auch sie werden bald wieder kommen,"
sprach der Freiherr sich zu Elsa wendend, die schwei-
gend und mit ernstem Blicke neben ihrer Mutter stand.
Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er zuerst den Pro-
fessor gesprochen hä te, er hatte dies erwartet. Jetzt
sah er sich der gegenübergestellt, deretwegen er gekom-
men war. Sollte cr ihr noch verbergen, weshalb er
gekommen war? Mußte sie es nicht crrathen?
„Ich würde früher gekommen sein," fuhr er fort,
„um das, was mein unglückseliger Neffe an Ihnen
verschuldet hat, zu sühnen, Sie können jedoch nicht
ahnen, wie viel Unheil aus dieser einen That ent-
sprungen ist!"
Elsa halte bei der Erinnerung an das Geschehene
sich enipor gerichtet, ihr Auge glühte. Es war nicht
klug von dem kleinen Herrn gewesen, daß er so bald
darüber sprach, ehe er ihren Eharakter kennen gelernt
hatte. Elsa's Mutter gab ihm einen Wink Zu schwei-
gen, er bemerkte denselben nicht.
„Zu sühnen!" wiederholte Elsa langsam. „Sie
vergessen, daß es Handlungen gibt, welche, einmal
ausgesührt, nie mehr zu sühnen sind! Die einzige
Sühne wäre Vergessenheit — können Sie diese geben?
Und ich möchte sie nicht, selbst wenn sie in Ihrer
Hand läge — ich will nicht vergessen!"
„Rege Dich nicht auf, Kind," bat die Geheime-
räthiu beruhigend.
„D5s Geschick -hat die That an meinem Neffen
schwer gesühnt!" sprach der Freiherr. „Er ist ein
Flüchtling, an dessen Ferse sich der Schatten eines
Ermordeten heftet; er ist verstoßen und verlassen,
ohne Mittel zu lebeu und ohne Muth sciuem elenden
Lebeu ein Ende zn machen!"
Er trat mit der Geheimeräthin und Elsa in die
Laube und erzählte ihnen, wie Alles gekommen war.
„Ich habe mich gänzlich von ihm losgesagt, von
mir hat er w.der etwas zu hoffen, noch zu fürchten,"
schloß cr, „ich habe ihn enterbt und jedes Baud zwi-
schen ihm und mir ist Zerrissen. Was sein Geschick
auch sein mag, ich kann kein Mitleid mehr mit ihm
empfinden, denn er selbst hat mir dasselbe zur Um
möglichttit gemacht."
Ecsa hatte mit leuchtenden Augen zugehört, kein
Wort war über ihre Lippen gekommen, ihr Gesicht
hatte jedoch deutlich verrathen, daß sie ein Gefühl
der Genngthuung empfand. Der Mann, der mit ihrer
Liebe ein Spiel getrieben, der zu stolz gewesen war,
ihr, der Bürgerlichen, die Hand zu reichen, der lieber-
em großes Vermögen im Stiche gelassen hatte —
dieser M nm ein Mörder, ein Flüchtling, ein Bettler!
Hätte ein Mensch sie besser rächen können, als es
das Geschick gethan hatte!
Sie stand ans nnd ging fort, sie mußte allein sein,
um die Empfindungen, welche ihre Brust durchstürm-
ten, Zn bewältigen.
Der Freiherrr blickte ihr uack>, er begriff sie nicht.
„Was ist mit Ihrer Tochter?" fragte er.
„Sie hat das frevelhafte Spiel, welches mit ihr
getrieben ist, noch immer Nicht überwunden," gab die
Geheime: äthin zur Antwort. „Auch ich begreife sie
jetzt oft nicht. Die schwere Krankheit hat aus ihren
tief gekränkten Stolz keinen mildernden und vwiöh-
uendeu Eindruck ausgeübt, sie kann nicht verg ssen.
Die Heiterkeit und Weichheit ihres Wesens ist ver-
schwunden, sie hat Ihren Neffen wirklich geliebt, es
Ivar das erste Mal, daß ihr Herz eine tiefe und ernsw
Neignng empfand, und sie ist so schändlich getäuscht!
Es tiitt jetzt in ihrem Wesen eine Gereiztheit Heron-,
welche ich früher nie an ihr wahrgeuommen habe."
„Sollte dies nicht ein Zeichen sein, daß ihr Körper
noch immer nicht völlig genesen ist?" warf der Frei-
herr ein.
Ich habe mit dem Arzte darüber gesprochen, er
theilHiese Ansicht nicht. Die einzige Beruhigung, die
cr mir geben konnte, war die, daß die Zeit einen mil-
dernden nnd besänftigenden Eindruck ausüben werde."
„Sollten Sie nicht dasselbe erreichen, wenn Sie
mit Ihrer Tochter den Ort wechselten? Hier erinnert
jeder Gegenstand sie an das Geschehene."
„Ich werde iu den nächsten Tagen mit ihr abreiseu."
 
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