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Auf dem Mclltheile.
Eine Dorfgeschichte aus Niederdeutschland
von
Th. Justus.
1.
Im Dors läutete die Abeudglocke mit starken, lang-
ausgehaltenen Schlägen und in der stillen Herbstlust
tönte ihr Klang weit über die fruchtbare, mit einzelnen
Gehösteu besä'te Fläche, welche sich au eineu anmuthig
geschwungenen Höhenzug — eine der letzten, gegen
die norddeutsche Ebene vorgeschobenen Bergketten —
lehnte. In einem der serner vom Torf gelegenen,
von uralten Eichen umstandenen Bauernhöfe ward,
nachdem der letzte summende Ton verklungen war,
an der von der Straße abgewandten
Giebelseite ein Fenster geschlossen.
Eine zitternde Hand bemühte sich,
einen Vorhang von dunkelfarbigem
Stoff vor den Scheiben zu befesti-
gen —- ein Werk, das erst nach
mehreren vergeblichen Versuchen ge-
lang , und als ob dasselbe seine
letzten Kräfte in Anspruch genommen
hätte, so sank der alte Mann, der
es vollbracht, auf einen unweit von
ihm stehenden niedrigen Binsenstuhl
und barg stöhnend das Gesicht in
beiden Händen. — Draußen aber
auf dem Fußpfad, der hinter dem
Garten her lief, standen die Vor-
übergehenden theilnahmvoll still: „Der
Wasselmeyer muß seine gute Frau
verloren haben! Das Fenster ist ge-
schlossen und verhängt und cs mußte
doch iu deu letzten Wochen sperr-
angelweit offen stehen, weil sie immer
keine Luft kriegen konnte. Ja, es ist
wohl nicht anders, sie muß todt sein!"
— „Es wird ihm hart ankommen,
dem alten Mann," fügte ein Anderer
hinzu, „aber solch' ein Hingnälen,
wie's mit der Frau zuletzt war, das
ist ja schlimmer als Tod." Uud
daniit beschleunigten die, welche nach
dem Dorfe gingen, ihre Schritte, um
möglicherweise als die Ersteu den
Bekannten und Freunden diese Nach-
richt zu überbringen.
Auf dem Wasselhofe war iudeß
eine von den Mägden in die mit
dem Wohngebäude durch ein Quer-
haus verbundene Scheune gegangen,
wo eben Knechte und Tagelöhner mit
dem Abdreschen von Hafergarben
beschäftigt waren. Der dadurch her-
vorgerufene Lärm übertönte anfangs

ihre Stimme, die ohnehin von verhaltenem Weinen
gedämpft war. Sie erhob dieselbe lanter: „Hört ihr's
nicht? Ihr sollt Feierabend machen und Einer von
euch muß sobald als möglich Botschaft bringen auf
deu Holterhof — die Frau ist so eben mit Tode ab-
gegangen."
Die Arbeitenden hielten inne. Betroffen fahen sie
erst das Mädchen, dann sich unter einander an.
„Gott hab' sie selig!" sagte einer der Tagelöhner,
ein alter Mann, nut traurigem Gesicht. „Sie Ivar
eine brave Frau, und was die armen Leute au ihr
verlieren, das ist gar nicht zu sagen!"
„Mit ihrem Volk*) hat sie's auch immer gut ge¬

meint," setzte einer von deu Knechteu hinzu. „Da
bekam keiuer ein Loth Butter oder Speck zu weuig
uud die Stuten (Wecken, Wcißbrod), die sie zu Fest-
tagen buk, wareu auch immer größer als anderswo.
Letzte Ostern noch —"
„Das kannst Du ein andermal erzählen," unter-
brach einigermaßen ungeduldig den in seine Erinnerun-
gen Vertieften der Oberknecht. „Jetzt ist das Nöthigste,
Eilert, daß Du Dich nach dem Hölterhof anfmachst
und dem Anerben die Nachricht von seiner Mutter
Tod bringst."
„Nach dem Holterhof! hm, ja!" und seine Mütze
abnehmend kratzte der Knecht seinen struppigen, stroh-
gelben Kops. „Der Weg ist verdammt weit heut'
Abend noch — na, 's will nicht helfen! Aber mehr
Plaisir würde ich denen da machen, wenn ich erzählen
könnt', daß er, der Alte, die Augen
zugethan."
„Gebt doch dem Jungen eins auf
sein ungewaschen Maul," sagte, sich
umwendeud, der alte Arbeiter.
„Ich wüßte nicht, daß ein Hof-
höriger mir den Mund zu verbieten
hätte," schrie Eilert erbost dagegen.
„Ihr zinst und zahlt uud frohnt
deni Hof, Ahlert Freese, während ich
noch einmal meinen freien Erbkolten
antrete, und von Euch lasse ich mir
nicht über den Mund fahren, und
daß der Hermann nur auf deu
Tod des Alten lauert, um mit Pauken
uud Trompeten den Wasselhof anzu-
treten, das weiß Jeder, und daß er
mit dem Holterhof so ziemlich fertig
und zu Ende ist, auch... .!"
„Still, Eilert!" entschied jetzt
nachdrücklich der Oberknecht, „und
wenn Du nicht binnen zehn Minuten
ans dem Weg nach dem Holterhöfe
bist, so könnt' es kommen, daß Du
heut' Abend noch Dein Bündel zu
schnüren hast."
„Von wegen Deiner?" fragte höh-
nisch der Knecht.
„Nein, von wegen des Alten,
wenn Du's wissen willst, denn der
hat Dich schon lange ans dem Strich."
„Na, ich ihn auch!" entgegnete
verbissen Eilert, „'s ist aber auch
noch nicht aller Tage Abend!"
Während in der Scheune diese
gereizten Verhandlungen stattfauden,
saß in der Todteukammer der alte
Bauer oder, wie er sich nach Väter
Weise am liebsten nannte, der „Wehr-
fester", an dem Lager der Verstor-
benen, glättete mit der Hand das
weiß und blau gewürfelte Linnen des

„Das Volk" in Niederdeutschland gleichbedeutend mit Dienst-
boten.

Ottilie Wiidcrmuth. Nach einer Photographie gezeichnet von C. Kolb. (S. 466.)



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