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Der Linltedler von Uolslttcn.
Novelle
von
W. Passauer.
(Fortsetzung.)
4.
Einige Tage später, zier Abendstunde, in welcher
der Schnellzug der Ostbahn in das Empfangsgebäude
zu Königsberg einrollte, führt eine Droschke au einem
der im Mittelpunkte der Stadt gelegenen, eleganten
Hotels vor. Ein Herr in dunklem Ueberzieher und
rundem Filzhut mit Plaid und Reisetasche in der
Hand steigt aus und schreitet eilig, ohne die Kellner
zu beachten, die breite mit Teppichen
belegte Treppe in die Höhe. Er bedarf
keines Begleiters nach seinem Zimmer,
denn er lvgirt daselbst bereits seit
drei Wochen und kehrt von einem
Ausfluge in die Provinz heim.
Oben angelangt macht er eilig
Toilette und seht sich in ein Sopha.
Doch er scheint unruhig und aufgeregt.
Heftig läutet er nach dem Kellner
und befiehlt dem Eiutretenden bei der
in der Beletage logirenden Obristin
Sorbeuil anzufragen, ob er die
Ehre haben könnte vorgelassen zu
werden. Er geht die Antwort erwar-
tend mit schnellen Schritten auf und
ab und folgt dann dem Kellner aus
dein Fuße, als dieser eine bejahende
Antwort überbringt.
Der auf das Eleganteste dekorirtc
Saal, den die Frau Obristin nebst
drei Zimmern seit einigen Wochen
bewohnt, ist bereits hell erleuchtet.
Sie selbst, eine ziemlich korpulente
Dame mit schönen, etwas schwärme-
rischen Augen und matten, obwohl
noch immer anziehenden Zügen von
südländischem Kolorit und blonden
Haaren, in eleganter schwarzseidener
Robe, empfängt ihn wie einen alten
und bereits erwarteten Bekannten.
Er küßt die ihm zum Gruß gebotene
seine Hand. Dann, geht er leise über
den weichen Teppich zur Thüre, die
nach den dahinter liegenden Zimmern
führt, und schließt sie vorsichtig ab.
„Sie spannen meine Erwartung
auf das Höchste, Hochwürden," beginnt
die Dbristin in französischer Sprache.
„Ich lese in Ihren Mienen, es gibt
etwas Neues, Bedeutendes, dessen
Eindruck zu überwinden setbst Ihnen
nicht ganz gelingt."

„Sicher ist es so, gnädige Frau. Ich habe seit
unserer Trennung in Rudau an: Dienstage Dinge
von höchster Dringlichkeit erfahren, Dinge, die schnelles
und energisches Eingreifen erforderlich machen. Be-
reiten Sie sich aus Wichtiges, sehr Wichtiges vor,
gnädige Frau!"
„Sie erschrecken mich," sprach die Obristin, mit
dem parfümirten Taschentuche über die marmorweiße
Stirne fahrend, und in ihren gespannten Zügen war
die Wahrheit ihrer Worte deutlich zu lesen.
„Ich war also auf den: Umwege von Norden her
selbst in Rossitten, wie Sie wissen als Ingenieur
de Veit. Ich begab mich in das Haus des Doktor
Jansen. Ich könnte mit dem Resultate meiner Er-
mittelungen zufrieden sein, denn der Kleine ist mit

Liebe ausgenommen und für sein körperliches Wohl-
befinden würde jedenfalls in dieser einsamen Villa
nach jeder Richtung hin auf das Beste gesorgt sein.
Aber es ist Zweierlei, was sein Verbleiben dort un-
thnnlich, völlig unmöglich macht..."
„Unmöglich, Hochwürden? Wie denn unmöglich
nach den Mittheilnngen, die uns vor diesen: Schritte
über den Doktor und sein Hans von verschiedenen
Seiten zugegangen?"
„Wer sich auf Anderer Hilfe verläßt in solchen:
Fragen über Personen und Charaktere, ist immer
schlimm berathen. Wir Habei: darin leider gefehlt
und jetzt spät, aber nicht zu spät muß unser Ürtheil
ein anderes sein. Zunächst gehört Herr Doktor Jan-
sen seinen religiösen Ansichten nach zu den krassesten
Freidenkern, wie sie ja in dieser Pro-
vinz, den: Wirkungskreise Kant's und
seiner Schüler bis in die Rupp'schen
Extreme hinab, so stark vertreten
sind. Sie werden nicht wollen, daß
der einzige männliche Sprosse Ihrer
glaubenstreuen, frommen Familie,
selbst wenn Sie genöthigt sind, ihn
zum Heile unseres Ordens zu ver-
leugnen , in den Grundsätzen einer
solchen uns feindseligen Richtung
erzogen und um sein zeitliches und
himmlisches Heil betrogen werde.
Sie werden nicht wollen, daß wir
selbst ein Werkzeug mehr erziehen,
das geeignet ist, die Bedrängnis: unserer
heiligen und von allen Seiten auf
das Heftigste angefeindeten Kirche zu
vermehren. Scheu: darum muß das
Kind aus dem Hausedes Doktors fort!"
„Es ist genug, Hochwürden, genug
an dem, was Sie sagen. Er muß
unverzüglich fort! — O, ein bren-
nender Schmerz ergreift mich, wenn
ich an die Verblendung denke, in der
wir das Kind so ruchlose:: Händen
überantwortet!" rief die Obristin
entsetzt. „Es ist genug — Nichts mehr
davon!"
„Und doch, gnädige Fran, ist es
noch nicht genug damit," erwiederte
Herr de Veit mit kalten:, schneidigem
Nachdruck und sah sie ernsten und
festen Blickes an, als wolle er in
ihren Zügen lesen, ob sie Kraft genug
besäße einen noch schwereren Schlag
zu ertragen. „Fassen Sie sich, gnä-
dige Frau, bleiben Sie ruhig."
Tie Obristin sah ihn erwartungs-
voll an, ohne ein Wort zu erwiedern.
Ihr Gesicht war todtenbleich und um
die dunkeln Augen und die Lippen zuckte
es wie Wetterleuchten vordem Gewitter.
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Ltto Gras zu LtoUirrg-Wcrnigcrade, Präsident des preußische» Herrenhauses, (S. 562.)
Nach einer Photographie gezeichnet von C. Kolb.
 
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