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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 7.1862

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https://doi.org/10.11588/diglit.13516#0202

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englischen Kunst für einen Mann so entschieden Partei
zu ergreifen, daß das Gefühl der benachtheiligt-m Kon-
kurrenz — welckes bekanntlich in England die Stelle des
verletzten Gerechtigkeitsgefühls einnimmt, wie der Geld-
beutel die Stelle des Herzens — einen wahren Sturm
gegen den unglücklichen Ministerialsekretair heraufbeschwor,
der seinen ofsiciellen Katalog zum Kentern brachte. Jener
eine Mann war der Bildhauer Woolner, übrigens bei-
läufig gesagt gar kein ungeschickter Künstler, der neben
Marshall/ Durham, Noble u. A. wohl seinen Platz be-
haupten kann, der aber von Mr. Palgrave in exklusivster
Weise in den Himmel erhoben wurde, während er Alles
klebrige, was sonst noch au englischer Kunst existirt, als
mittelmäßig und „kaum der Rede werth" auf die Seite schob:
kurz Mr. Woolner war — in den Augen Mr. Pal-
grave's — der englische Phidias, mit dem er ihn auch
verglich, während die klebrigen als bloße Handlanger und
höchstens geschickte Techniker ohne Geschmack und Talent
gelten mußten. Nun kommt aber der obige Master I.
O. und löst dem englischen Publikum das Räthsel, indem
er in ganz gemüthlicher Weise erzählt, wie die Herren
Palgrave und Woolner in einem Hause wohnen, zusammen
in traulicher Unterhaltung über englische Kunst bald im
xartour des Einen, bald im Atelier des Andern früh-
stücken, und daß in Folge dessen ihre Seelen so sympa-
thetisch geworden, daß beide die innigste Ueberzeugung ge-
wonnen hätten, im Allgemeinen sei die englische Kunst
wenig oder gar nichts, im Besonderen aber sei sie
Alles, nämlich Master Woolner; z. B. das projektirte
Albertdenkmal würde eine Zierde der Stadt werden —
wenn es von Mr. Woolner ausgeführt würde — sonst
eine Schmach. Als die Sache soweit gediehen war, er-
wachten denn auch die Herren Kommissäre der Ausstellung,
die natürlich den unter ihrer Autorität erschienenen „offi-
ciellen Katalog" gar nicht gelesen hatten, aus ihrem an-
genehmen Halbschlummer und entzogen dem Mr. Palgrave
die Erlaubniß, den cafalogue raisonne als „ofsiciellen"
verkaufen zu lassen, so daß er jetzt zu einer gewöhnlichen
Brochüre degradirt worden ist.

Wo, in welchem Lande wäre dergleichen wohl möglich?
Wo giebt es noch ein Publikum, das so indolent in seiner
Unwissenheit, so unwissend in seiner Indolenz wäre in Be-
treff der höchsten geistigen Interessen, der wahrhaft realen
Güter des Lebens, Kunst, Wissenschaft, Poesie und alles
Dessen, was Gemüth, Herz und Seele in Bewegung setzt? —
wo gäbe es noch einen Beamten, der seine offieielle Stellung,
nicht in einer blvs nationalen, sondern in einer wahrhaft
kosmopolitischen Frage, wie die Weltausstellung doch wohl
eine ist, bis zu einem solchen Grade frecher Unverschämt-
heit verkennen könnte, um seine ganz Europa gegenüber
übernommene Pflicht einem derartigen schmählichen Nepo-
tismus zum Opfer zu bringen? — wo gäbe es noch Ober-
behörden, unter deren Protection solchem Unwesen das
offieielle Siegel aufgcdrückt werden kann, da sie von dem
Inhalt einer von ihnen selbst autorisirten Schrift nicht
einmal Kenntniß nehmen? — Die Franzosen sind viel zu takt-
voll, die Deutschen viel zu gewissenhaft dazu. Jene wür-
den schon aus Furcht vor der Blamage der Lächerlichkeit,
diese aus Respekt mehr noch vor der Sache als vor sich
selbst und aus Besorgniß jener zu schaden, sich gegen solche
Eventualitäten zu bewahren gewußt habe». Aber die Eng-
länder sind ebensosehr gegen die Geißel der Lächerlich-
keit wie gegen den Stachel der Entrüstung gepanzert.

Doch ich fürchte. Ihre Leser mit dieser Misere zu er-
müden, und will mich daher meiner eigentlichen Aufgabe
zuwcnde». . Ganz verschweigen aber wollte ich sie doch
nicht, weil ich für ein deutsches Blatt schreibe und leider
in unserm guten Deutschland noch immer ein tief einge-
wurzelter Autoritätsglaube herrscht, der Alles, was „weit
her" ist, mit einer rührenden Demuth und Achtung be-
trachtet. Aber wahrlich, wir Deutschen können stolz sein
auf Das, was wir selber haben, stolzer als irgend ein Volk

der Mutter Erde, denn wir sind — das begreift man
erst im Auslande und namentlich in England — die Groß-
siegelbewahrer von Allem, was groß, schön und wahr ist:
wir sind die Nation der Zukunft, denn wir sind die
Zukunft der Nationen — und freilich darum eben
in der Gegenwart keine Nation. Und warum sind wir
die Zukunft der Nationen? Weil sich in uns die Menschheit
mehr verkörpert, als in irgend einer anderen Nation, weil
wir weniger einseitig, weniger beschränkt, weniger eitel
sind, und weil wir neben diesen negativen Tugenden auch
die positiven einer größeren Tiefe und Wahrheit allgemein
menschlichen Wesens und Seins besitzen. Denn wir haben
noch ein Herz für das Allgemeine, — nicht für jenes
materielle Allgemeine, was jedem Einzelnen „praktisch" zu
Gute kommt, sondern für das ewig Gültige, an und
für sich Seiende des Lebens. Doch nun genug hiervon.
Streichen Sie, wenn Sie wollen, mein Freund,*) kehren
Sie den Redakteur heraus, aber es drängte mich von der
Leber herunter zu reden, und Sic wissen, die Leber ist
dasjenige Organ, welches die Galle producirt.

Ehe ich von der englischen Kunst in ihrer Vertretung
rede, zuvor ein paar Worte zur Orientirung Ihrer Leser
über die lokale Gliederung der Ausstellung. Die Abthei-
lung für Kunst, oder wie man hier sagt tlle departement
of fine arts (gerade wie die Franzosen einen Unterschied
von beaux-arts und anderen Künsten machen, wohin sie
wahrscheinlich Seiltänzer und Taschenspieler rechnen. Wir
Deutsche kennen gottlob nur eine Kunst und das ist, in
allen einzelnen Künsten, die Offenbarung der Schönheit)
also diese Abtheilung umfaßt die an der Südfronte des
Gebäudes nach Cromwell Road sich hinziehende Galerie,
an welche sich dann vom Ost- und Westthurm aus zwei
Flügel nach Norden erstrecken, welche ebenso eingerichtet
sind wie die Hauptgalerie. Die Engländer, um mit diesen
wieder anzufangen, okkupiren nun hiervon den besten und
größten Raum, nämlich die ganze östliche Hälfte der Haupt-
galerie. In dieser nehmen die Oelgemälde den ganzen
Raum bis einschließlich zu dem östlichen Thurm ein, wäh-
rend die Aquarellen, architektonischen Entwürfe, Cartous,
Zeichnungen, Kupferstiche, Buntdrücke, Lithographien n. s. f.
in dem anstoßenden, nach Norden abgezweigten Flügel
Aufnahme gefunden haben. Die andere (westliche) Hälfte
ist von den ausländischen Werken eingenommen und zwar
sind die Oelgemälde in der Hauptgalerie nebst einem Theil
des Seitenflügels aufgestellt. In der Hauptgalerie be-
merkt man zunächst die Franzosen, sodann zum größten
Theil die Deutschen, gegenüber die Holländer und Oester-
reicher, welche also nicht zu den Deutschen gerechnet wer-
den. In dem westlichen Eckthurm sind die Spanier, Ita-
liener und Schweizer untergebracht, eingepökelt wie die
Heringe, da viele, und darunter ganz kleine Bilder, 25
bis 30 Fuß hoch hangen. Die übrigen Nationen, Schwe-
den, Dänen, Russen u. s. f. schließen sich in dem Flügel
an, dessen nördliche Hälfte, wie schon bemerkt, den Aqua-
rellen u. s. f. eingeräumt ist. Die Wände sind in einem
stumpfen graugrünen Ton gemalt, der nicht unvortheilhaft
ist. Das von oben durch die in der Mitte durchbrochene
Decke der ganzen Länge der Galerien nach einfallende
Licht ist ruhig und voll genug, um allen Bildern eine
gleichmäßige günstige Beleuchtung zu gewähren.

Wenden wir uns jetzt zu der englischen Abthei-
lung, wozu der obenerwähnte Katalog in der Einleitung
Folgendes bemerkt: „Die englische Kunst unterscheidet sich
von der aller übrigen europäischen Schulen in einer Be-
ziehung auf bemerkenswerthe Weise. Letztere wurzeln mehr
oder minder in den mittelalterlichen, die unsere in den
modernen Zeiten. Unsere Maler des achtzehnten Jahr-
hunderts hatten sich erst an den Glauben zu gewöhnen, daß
England Kunst zu erzeugen im Stande wäre. Italien,
Frankreich, Deutschland und die Niederlande konnten mit

*) Das werden wir bleiben lassen.

D. R.
 
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