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Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung ; Hauptorgan d. dt. Kunstvereine — 7.1862

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https://doi.org/10.11588/diglit.13516#0398

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382

nomen Seltsames noch zu erwarten sei, scheinen die bei-
den Männer auzudenten, welche hinter dem Greise mit dem
Bettelstäbe und der Mönchskutte oben rechts in der Ecke
neugierig lauschend aus die Astronomen herabsehen und
sich an den Reden derselben so wenig erbauen, daß der
vordere von ihnen, der eben genannte Kopernikus, für
sich besorgt davoneilt. Die Scene wird noch interessan-
ter, wenn wir annehmen müssen, daß Raphael seine und
seines Lehrers Pietro Perugino Gestalt dem Regiomonta-
nus und Purbach geliehen habe. Als rechtgläubiger Katho-
lik und als Maler im Dienste des Papstes mußte Raphael
am ptolemäischen Weltsystem fcsthalten; daß er aber die
Wichtigkeit und den Gewinn der neuen Theorie für die
Wissenschaft erkannte, beweist der erhöhte Standpunkt, wel-
chen er auf seinem Gemälde dem Kopernikus angewiesen
hat. Weder Raphael noch Kopernikus erlebte den Aus-
gang der Sache. Jener war schon (i. I. 1520) gestorben,
als Kopernikus sein Werk „äs orbium coelestium revolu-
tionibus“ nach langem Zögern, vom Kardinal von Schöm-
bergs) und anderen hochstehenden Männern ermuntert,
wenige Tage vor seinem Tode gedruckt herausgab. Ob-
gleich der Verfasser seine Schrift, im Vertrauen auf die
Wahrheit der darin vorgctragenen Lehren, dem Papste zu-
geeiguet hatte, wurde auf ihn doch noch im Tode, wie auf
einen Ketzer, der Bannstrahl vom Batican geschleudert, und
erst in diesem Jahrhundert (1821) hat die päpstliche Kurie
in Rom das Berdammnngsurtheil aufgehoben.

Ein ähnliches Schicksal, nur ein weit schlimmeres, hatte
ini Alterthum Sokrates zu erleiden. Mit diesem Gedan-
ken schreiten wir zur Betrachtung der in der oberen Reihe
aufgestellten Dialektiker, als deren würdigsten Vertreter
uns Raphael eben den Sokrates vorgeführt hat. Wir
sehen diesen merkwürdigen Mann**) heiteren Angesichts
einer gemischten Gruppe von Zuhörern aus dem Volke
zugewandt, während eine Gestalt aus der ersten Nische
rechts von Apoll mit dem Finger auf ihr herab zeigt.***)
Wie unter den vor Sokrates versammelten Personen Al-
kibiades an seinem Kriegeranzuge, so möchte auch wohl
Timon, der Menschenfeind, an seinen finsteren Mienen
und seiner übrigen Haltung kenntlich sein, während der
schone Jüngling Tenophon als das empfänglichste Gemüth
und als Liebling seinem Lehrer am nächsten steht. Ueber-
haupt disputirte Sokrates mit aller Welt, mit Gelehrten
und Ungelehrten, mit wißbegierigen Jünglingen und mit
den trügerischen Sophisten. Wie schlecht diese durch Ver-
theidigung jedes beliebigen Satzes alle Sittlichkeit unter-
grabenden Afterphilosophen bei ihm angeschrieben waren,
ja wie wenig selbst Aristipp sich rühnien durfte, ein Sckü-
ler desselben zu sein, das deutet der von Sokrates am entfern-
testen stehende Zuhörer dem alten Hedoniker an, wäh-

*) Dies wurde auf den verschiedenen Kupferstichen und dein
Gemälde im Raphaelsaalc der hinter Kopernikus und Antisthenes
stehende bärtige Mann sein; aber auf der Lithographie von Man-
tnano sieht man freilich nur zwei bartlose Jünglinge, von denen
der vordere, fortcilende, sogar der ältere ist.

**) Der wahrhaft Gebildete wird es zu würdigen wissen,
wenn der Künstler das Gesicht desselben vor dem betrachtenden
Publikum tveniger unschön erscheinen läßt.

***) Wer dies ist, werden wir nachher erfahren.

rend dieser seine gelehrte, in sein System eingeweihte, mit
Schriftrollen herbeieilcnde Tochter Arete*) auf Sokrates
als den Urheber seines Systems hinweist. Solchen leicht-
fertigen Naturen war das die Deianira und den Centau-
ren Nessus darstellende Bild vergebens zur Warnung auf-
gestellt.**) Nessus erinnert au die weiter oben sichtbare
wüste Scene zwischen den Lapithen und Centauren, und
diese an die Ausgeburten einer üppigen, ungezügelten Phan-
tasie, die ein durch ächte Philosophie geregelter Geist im
Aufblick zu Apoll als seinem Beschützer siegreich bekämpft.
Ein solches Beispiel giebt es uns der edle Jüngling, wel-
cher auf unserem Gemälde im Rücken der Cyrenaiker Augen
und Hano zum delphischen Gotte erhoben hat, ein ande-
res der weise Sokrates, der noch als Greis in den Ta-
gen, welche zwischen seiner Berurtheilung und der Voll-
ziehung des Todesurtheils verflossen, die Stunden der Ein-
samkeit dazu verwandte, daß er einen Hymnus auf Apoll
dichtete.

Ziehen wir die zum Theil weniger ausgeprägten zehn
Gestalten oben in den Nischen hier in Betracht, so erin-
nern uns diejenigen, welche zur Rechten der Tempelhalle
aufgestellt sind, an die ersten Anfänge der in Kleinasiey
aufdämmernden Naturphilosophie, von Thales (640) bis
auf die Zeit des Perikles (-s 429) herab, die auf der lin-
ken Seite an die von Penophanes (um 536) in Italien
gestiftete eleatische Schule. Der Elcate Zeno (um 500)
hat sich uns schon bemerklich gemacht; es ist nämlich der
Mann, welcher als Erfinder der Dialektik aus der ersten
Nische rechts von Apoll auf Sokrates als seinen berühmten
Nachfolger und Meister in dieser Kunst hinweist***). Ein
redendes Beispiel von dem bedeutenden Einflüsse der Phi-
losophie auf die Beredsamkeit ist der große athcniensische
Staatsmann Perikles. Wir sehen ihn in der hintersten
Nische rechts von der Tcmpelhalle. Zwei Philosophen,
der ebengenannte Zeno und der Ionier Anaxagoras, waren
seine Lehrer. Ihm steht würdig zur Seite die Milesierin
Aöpasia, seine mit hohem Geist und ungewöhnlicher Kennt-
niß der Redekunst begabte Freundin und spätere Gemahlin;
weiterhin folgt Anaxagoras, dann Thales, als Stifter der
ionischen Philosophie, und in der kleineren Nische sein
Schüler Anaximander, welcher die von ihm selbst erfun-
dene geographische Tafel oder Erdscheibe vor sich hälts-)
Zwischen Apoll und der Tempelhalle finden wir neben dem

*) Oder seinen Enkel Aristipp? Rach den verschiedenen Ab-
bildungen ist die Weiblichkeit dieser Person zweifelhaft.

**) Bei der Erklärung dieses und des folgenden Bildes gebe
ich dem Volpato, der Ecole d’Athenes des Areil und dem Ge-
mälde im Raphaelsaale vor den Knperstichen des Mantuano und
Thomassino den Vorzug. Dasselbe ist der Fall mit den beiden
Reliesbildern unter dem Standbilde der Minerva, von denen
das untere (zwischen Zeno und ,dem Skeptiker) bei Mantnano
und Thomassino gar nicht ausgeführt ist.

***) Stach Volpato's Zeichnung würde Zeno de» zweiten, Te-
nophanes den ersten Platz unter den Eleatcn einnehmcn.

si) Auf dem Kupferstich von Thomassino läßt Raphael dem
Thales einen Stab in die Höhe halten, um die astronomischen
Kenntnisse dieses Kosmophysikers und seine Lorhervcrkündignng
einer Sonncnfinsterniß anzndcnten; in der Zeichnung des Anaxi-
mander dagegen behauptet Mantnano vor allen Nachfolger» den
Vorzug größerer Genauigkeit.
 
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