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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 12.1903

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Fuchs, Ludwig F.: Der Weg vom Natur-Studium bis zum Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.6693#0129

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420 L. F. Fuchs- -Darmstadt:

und betonte nur das, was sich beim Stilisieren
der beabsichtigten Bewegung einfügen
wollte. Hier hätten die Japaner noch lange
unsere Lehrmeister sein können. Wir hätten
durch das Studium der grossen formalen
Schönheiten, die Japan einst hervorbrachte,
bewiesen, dass wir fähig sind, solche zu
würdigen. Und das hätte uns weniger
kompromittiert als das achtlose Vorüber-
gehen, dessen sich unsere Künstler schuldig
gemacht haben. Vergleichen wir das Dekor
auf einem japanischen Kunst - Gegenstand
(z. B. einem Stichblatte) mit dem Ornament
eines deutschen Künstlers, das ein ähnliches
Motiv zeigt! Das Gesagte wird zur Evidenz
erhellt werden. Mag der Japaner ein
Bambus - Dickicht verwenden. Die Grazie
der Stengel-Biegungen, die fabelhafte Exakt-
heit der Knoten-Behandlung erregen unser
äusserstes Entzücken und aufrichtige Be-
wunderung. Alles atmet hier Leben und
Bewegung. Ein Gegenstück hierzu wäre
das Titel-Blatt eines vielgelesenen deutschen
Buches. Es zeigt unter anderem einen Strand
mit Röhricht, sogennanten Wasserkolben. Wie
banal ist hier alles. Wie geschmacklos die
Bewegung und Symmetrie der gebogenen
Halme, der ganze Aufbau der einzelnen
Pflanzen usw. Die Zeichnung stammt von
einem unserer bekanntesten Buch-Schmuck-
Künstler. Bei uns richtet man sein Augen-
merk auf das Ganze und vernachlässigt das
Einzelne auf das Grausamste. Die Freude
an solchen Kunst-Produkten dauert daher
nicht länger als die oberflächliche Betrachtung.
Der Japaner berücksichtigt beide Seiten in
gleicher Weise und erreicht dadurch eine
andauernde Freude. Immer wieder findet
das Auge Details, die es von neuem
beschäftigen, von neuem interessieren. Es
liegt in der Art dieser Leute, nur selten zu
stilisieren (in dem bei uns geläufigen Sinne).
Gemeinhin lassen sie ihrem Modell seinen
Karakter und Habitus. Geschieht es aber,
so geschieht es mit überlegenem Geschmack
und in sinngemäßer Weise. Anders bei
uns. Bleiben wir beim Titel-Blatt! Die vier-
eckige Fläche ist gegeben. Nun kommt der
Künstler und beschliesst, mit einer bestimmten
Pflanze oder gar einem menschlichen oder

tierischen Wesen diese Fläche in sinnvoller
Weise auszufüllen. Eine bestimmte Idee,
wie er das thun will, schwebt ihm ausser-
dem vor. Was meistens dabei herauskommt,
sehen wir täglich vor Augen. Das gegebene
Format wird das Prokrustes - Bett für die
Pflanze, den Menschen oder das Vieh. Man
zerrt und schiebt, presst und knickt und
schlingt, bis das Opfer in der gehörigen
Pose auf dem Papier sitzt. Der Betrachter
hat wenig Freude an dem Gebilde. Er
weiss nun mal, wie eine Pflanze, ein Tier
oder ein Mensch aussehen, und keine Macht
der Welt, geschweige die von ihm anerkannten
aesthetischen Prinzipien bringen ihn dazu,
dass er unser Ornament anders aufnimmt,
als mit dem Gefühl einer gelinden Pein.

Ob man statt der obigen Objekte
Fratzen nimmt, macht wenig Unterschied.
Ausserdem bringen gerade diese etwas in's
Ornament hinein, was nicht hinein gehört.
Sie wirken durch ihren Gesichts-Ausdruck
angenehm oder aufregend, interessant oder
langweilig auf den Betrachter, anstatt durch
die reine Form. Wir haben eben auf die
Verwendung bestimmter Natur-Objekte von
vornherein zu verzichten. Wir bekommen
hierdurch sofort: i. eine grössere Freiheit,
2. eine Bereicherung der Möglichkeiten und
sind alsdann auch 3. imstande, unsere Formen
geistig zu vertiefen. — Wir bekommen grössere
Freiheit! Es wird einleuchten, dass, wenn wir
uns nicht mehr durch eine festgelegte
Formen - Folge binden, uns die Gesamt-
zahl der gegebenen Motive auf einmal zu
Gebote steht. Eine gewisse Findigkeit
und Formen - Studien nach der Natur sind
dabei natürlich immer vorausgesetzt.

Die Bereicherung der Möglichkeiten
besteht darin, dass ich diese Motive in
beliebiger Anzahl und in beliebiger Weise
zum Aufbau des Ornaments verwenden
kann. Und dies führt uns zum dritten
Punkte, der wieder in zwei weitere zerfällt.

Es ist klar, dass durch die grosse Un-
gebundenheit des Künstlers die Individualität
desselben vielmehr zum Ausdruck kommen
muss. Das Ganze wird von seinem Geiste
Zeugnis ablegen. Der energische Künstler-
Karakter wird eine straffe, aufstrebende und
 
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