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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 12.1903

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Carstanjen, Friedrich: Kunst und Kunst-Begeisterung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6693#0200

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Kunst und Kunst-Begeisterung.

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selten nebeneinander her-
laufen, meist sich kreuzen,
verwirren und auseinander
führen. — Gegenüber die-
sem Prozess der Neu-
schaffung von Kunst-
Formen steht nun das
aesthetisch geniessende In-
dividuum noch blinder als
der Schaffende selbst. Wie
kann es verstehen, wie
kann es beurteilen, was da
wie eine Athene aus dem
Kopf des Zeus, aus dem
Geiste des Künstlers her-
vorsprang, da es doch nicht
dieselben Vorbedingungen
erfüllte, nicht denselben
Gedankengang durchlief;
es steht vor einer Er-
scheinung, deren Verbin-
dung nach rückwärts ihm
unbekannt, welche oft ab-
getrennt zu sein scheint
von allem Herkömmlichen.
— Wer aber reizbedürftig
auf aesthetischem Gebiet
ist und aufnahmefähig dem
Neuen gegenübersteht, der
klagt nicht, man habe die
Schönheit verloren und
müsse zurück, zurück zu
ihr. Vor uns Hegt der
Weg und weite Perspektiven öffnen sich dem
schönheitsdurstigen Blicke. In vergangenen
Jahrhunderten war es die geschlossene, ton-
angebende Macht der Höfe, welche stil-
bildend wirkte und widerspruchslos den
Geschmack prägte. Heutzutage sind es
Hunderte von Künstler - Individualitäten,
welche gesondert neben- und gegeneinander
um die Palme der Autorität kämpfen; und
ihnen gegenüber steht das Heer der mit
dem Schwert der Kritik gerüsteten kunst-
historisch und aesthetisch Gebildeten.

Aber was nutzt die Kritik dem Neuen
gegenüber? Sie gewinnt ihre Prinzipien
immer erst aus dem Vorhandensein der
Werke selbst, und neue Werke verlangen
neue Prinzipien, die immer erst hinterher

GERTRUD KASEB1ER—NEW-YORK.

Porträt: Miss Nesbet.

gewonnen werden. Die Kriegs-Kunst wurde
erst geschrieben, nachdem die Welt bereits
grosse Heer-Führer und grosse Kriegs-Thaten
gesehen hatte; und auch vor der Philosophie
gab es grosse Philosophen. So treffend die
Gründe der Kritik den Werken der Ver-
gangenheit gegenüber sind, so unzureichend
und wenig passend sind sie zumeist dem
Neuen gegenüber. Kritik verlangt unbe-
fangene Anschauungs - Kraft, Kunst-Sinn
und Kenntnis der Kunst in geschichtlicher
und wissenschaftlicher Beziehung mit In-
begriff des Technischen. Wenig davon
können wir der neuen Kunst mit ihren neuen
Formen gegenüber gebrauchen. Da bedürfen
wir vor allem des instinktiven Geschmacks
und der gesunden Begeisterungs-Fähigkeit.

1803. XI. 8.
 
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