Kollektiv- und Massen-Ausstellung.
Mathilde stegmayer—darmstadt. Kissen mit farbiger Stickerei.
hat. Aber die Kunst ist nicht nur Sache der
Persönlichkeiten. Neben höchst individuellen An-
trieben machen sich in ihr eine große Anzahl von
bewegenden Kräften geltend, die nicht der Persön-
lichkeit allein, sondern ihrer Nationalität, ihrer Rasse,
ihrer Gesellschaftsklasse und vor allem ihrer Zeit
angehören. Die Kunst gibt nicht nur ein Bild des
Individuums, sie gibt zugleich ein Bild der Kultur,
ein Bild der Zeit, zu der wir alle in einem Abhängig-
keitsverhältnis stehen. Ich frage: Sind diese über-
individuellen Dinge nicht auch der Darstellung wert?
Und gibt es ein besseres Mittel zu ihrer Darstellung
als eben jene Massenvorführungen von Kunst, die
im Interesse der Künstler gegenwärtig so viel ver-
leumdet werden? Man wird diese Fragen wohl in
meinem Sinne beantworten, die erste mit ja, die
zweite mit nein. Indem uns der große Kunstmarkt
das Bild der überindividuellen Zusammenhänge zeigt,
befriedigt er ein Bedürfnis, das jeder verspürt, der
über die kulturelle Situation nachzudenken geneigt
ist. Vom Rechte des Künstlers ist soviel die Rede
gewesen, so verschließe man sich nicht der Einsicht,
daß auch das Publikum ein Recht darauf hat, über
das allgemeine des Künstlerzustandes in Massen-
vorführungen unterrichtet zu werden. Aber nicht
nur die Zeit und ihre Kultur erfährt hier eine Dar-
stellung, auch der momentane Stand des Kunst-
schaffens tritt nur in Massendarbietungen klar vor
Augen. Wir erhalten wertvolle Aufschlüsse über das
Niveau, den Durchschnitt. Wir werden durch die
alljährliche Wiederkehr dieser Veranstaltungen über
Tempo und Tendenz der künstlerischen EntWicke-
lung in maßgebender Weise belehrt. Nur wenn wir
zu gleicher Zeit eine große Anzahl von Künstlern
um die Probleme des Lebens und der Kunst bemüht
sehen, gelangen wir zu einem abschließenden Urteil
über diese Dinge, die keinem denkenden Menschen
gleichgültig sind. Das Leben, die Zeit, die Kultur,
die historische Entwicklung bedürfen des Facetten-
spiegels der Massenausstellung. Sie ist die Be-
wahrerin aller der relativen Werte, die jeder mensch-
lichen Fähigkeit, auch der Kunst, anhaften. Die
Tatsache, daß bei ihr, wie bei einem stürmischen
Meeting, einer dem andern ins Wort fällt, ihn korri-
giert und ihm meinethalben auch das Konzept ver-
dirbt, erscheint von diesem Standpunkte aus nicht
beklagenswert, sondern geradezu als Vorteil.
Die Ziele der Kollektivausstellung sind anderer
Art. Aber eben darum besteht zwischen beiden
Ausstellungsformen keine Rivalität. Sie stehen sich
nicht entgegen, sondern sie ergänzen sich.
Wilhelm Michel - München.
1906. xi. 5.
709
Mathilde stegmayer—darmstadt. Kissen mit farbiger Stickerei.
hat. Aber die Kunst ist nicht nur Sache der
Persönlichkeiten. Neben höchst individuellen An-
trieben machen sich in ihr eine große Anzahl von
bewegenden Kräften geltend, die nicht der Persön-
lichkeit allein, sondern ihrer Nationalität, ihrer Rasse,
ihrer Gesellschaftsklasse und vor allem ihrer Zeit
angehören. Die Kunst gibt nicht nur ein Bild des
Individuums, sie gibt zugleich ein Bild der Kultur,
ein Bild der Zeit, zu der wir alle in einem Abhängig-
keitsverhältnis stehen. Ich frage: Sind diese über-
individuellen Dinge nicht auch der Darstellung wert?
Und gibt es ein besseres Mittel zu ihrer Darstellung
als eben jene Massenvorführungen von Kunst, die
im Interesse der Künstler gegenwärtig so viel ver-
leumdet werden? Man wird diese Fragen wohl in
meinem Sinne beantworten, die erste mit ja, die
zweite mit nein. Indem uns der große Kunstmarkt
das Bild der überindividuellen Zusammenhänge zeigt,
befriedigt er ein Bedürfnis, das jeder verspürt, der
über die kulturelle Situation nachzudenken geneigt
ist. Vom Rechte des Künstlers ist soviel die Rede
gewesen, so verschließe man sich nicht der Einsicht,
daß auch das Publikum ein Recht darauf hat, über
das allgemeine des Künstlerzustandes in Massen-
vorführungen unterrichtet zu werden. Aber nicht
nur die Zeit und ihre Kultur erfährt hier eine Dar-
stellung, auch der momentane Stand des Kunst-
schaffens tritt nur in Massendarbietungen klar vor
Augen. Wir erhalten wertvolle Aufschlüsse über das
Niveau, den Durchschnitt. Wir werden durch die
alljährliche Wiederkehr dieser Veranstaltungen über
Tempo und Tendenz der künstlerischen EntWicke-
lung in maßgebender Weise belehrt. Nur wenn wir
zu gleicher Zeit eine große Anzahl von Künstlern
um die Probleme des Lebens und der Kunst bemüht
sehen, gelangen wir zu einem abschließenden Urteil
über diese Dinge, die keinem denkenden Menschen
gleichgültig sind. Das Leben, die Zeit, die Kultur,
die historische Entwicklung bedürfen des Facetten-
spiegels der Massenausstellung. Sie ist die Be-
wahrerin aller der relativen Werte, die jeder mensch-
lichen Fähigkeit, auch der Kunst, anhaften. Die
Tatsache, daß bei ihr, wie bei einem stürmischen
Meeting, einer dem andern ins Wort fällt, ihn korri-
giert und ihm meinethalben auch das Konzept ver-
dirbt, erscheint von diesem Standpunkte aus nicht
beklagenswert, sondern geradezu als Vorteil.
Die Ziele der Kollektivausstellung sind anderer
Art. Aber eben darum besteht zwischen beiden
Ausstellungsformen keine Rivalität. Sie stehen sich
nicht entgegen, sondern sie ergänzen sich.
Wilhelm Michel - München.
1906. xi. 5.
709