Neueste Kunst.
Warum hat der Mann, die
Frau im Bilde zwei rechte
Beine oder unmögliche Hand-
gelenke? Der neue Stil, der
neue Ausdruck der Gedan-
ken fordert es eben. Und
ich suche ehrlich den Gedan-
ken aus dem Bilde herauszu-
lesen. Selten mit klarem Er-
folg. — Wenn ein Führer vom
jungen Geschlecht gefeiert
werden soll, so denkt dies zu-
nächst an Tolstoi. Seine Leh-
ren von der sieghaften Kraft
der Menschenliebe beherrscht
die Geister auch jetzt noch.
Tolstoi hat sich auch über
künstlerische Dinge geäußert.
Ihm gilt nur die Kunst, die
auf das Volk bessernd, be-
lehrend einwirkt. Es schätzt
den Künstler durchaus da-
nach ab, ob er im Sinne der Sittlichkeit und
der Menschenliebe auf einen weiten Kreis
wirke. Sein Feind ist das Ästhetentum, jene
Kunst, die nur zu den Wenigen, den geistig
Eingestellten, den künstlerisch Satten spricht.
Ich frage mich nun oft vor Arbeiten der jungen
Schule, ob sie Tolstois Forderung entspreche.
Ich gebe mir große Mühe, sie zu verstehen. Bei
vielen gelingt es mir nicht. Das kann seinen
Grund haben, weil meine Aufnahmekraft unter
oder über dem geistigen Mittel der Masse steht,
das heißt, weil ich zu wenig künstlerisch aus-
gebildet oder bereits zu verbildet bin, als daß
die Arbeiten unmittelbar zu mir sprechen könn-
ten. Ich suche im Geist vor ihnen nach einem
Erklärer. Soweit ich beim Um-
sehen erfahren konnte, geht
es zunächst der Mehrzahl der
Gebildeten und wohl noch
vielmehr der Masse der Kunst-
ungebildeten ebenso. Das
kann vielleicht mit der Zeit
sich ändern, und es scheint
das Ziel der jungen Schule,
der Welt zu zeigen oder sie
doch dahin zu belehren, daß
ihre Werke nicht Bildrätsel
für geistreiche Leute, sondern
Arbeiten sind, die in höherem
Grade auf allgemeines und
sofort wirksames Verstehen
rechnen, als dies ein realisti-
scheres Bild erwarten darf.
— All das zeigt: die Ziele
sind hoch gespannt. Und des-
JANKA GROSSMAN. »MINIATUR«
JANKA GROSSMAN. »MINIATUR«
halb glaube ich an den Nut-
zen der neuen Bewegung.
Nicht weil ich die Gesamt-
leistung sehr hoch einschätze.
Ich sehe da sehr vieles, was
mir stark nachempfundenes
und gequältes Gemachte zu
sein scheint. Aber ich glaube,
daß junger Eifer und hochge-
spanntes Wollen nie vergeb-
lich wirken, sondern befrei-
end sich geltend machen müs-
sen. Das Alte fällt, das ist
der Lauf der Welt, in der
Kunst nicht minder als sonst
im Leben. Auch der Realis-
mus mußte seinen Weg vol-
lenden, auch für ihn gibt es
eine Erfüllung des Zieles und
mit diesem die Ermüdung;
denn das Anstreben ist das
Leben der Kunst, nicht das
Verharren im wenn auch noch so mühsam Er-
reichten. Zu allen kunstbegeisterten Zeiten än-
derte sich mindestens mit jedem Menschenalter
das Kunstziel. Ideale haben selten ein Lebens-
alter, das über einige Jahrzehnte hinausreicht.
Jede Zeit stellt sich ihr Ziel und jeder einzelne
hat sein eigenes Ziel. Es ist unbillig, von ihm
dasselbe Ziel zu fordern, daß ein anderer, eine
andere Zeit, als das ihrige ansahen. Man kann
den Wert des Zieles verschieden beurteilen, ja
ein solches verdammen. Aber das Ziel der Ver-
gangenheit braucht nicht zugleich das der Ge-
genwart zu sein. Es nützt nichts, wenn man jene
als Verfall-Menschen brandmarkt, die vom Alten
abgehen, um Neues zu erstreben! Sie sind viel-
leicht kleiner, als das Ge-
schlecht vor ihnen, aber sie
sind aus anderer Umgebung
erwachsen, in anderen Ver-
hältnissen gereift und denken
daher anders. — Und so lei-
sten vielleicht die jungen Män-
ner doch der Gesamtheit gute
Dienste. Ich glaube es, wenn
ich gleich noch nirgends den
Gipfelpunkt erkennen kann,
auf den ihr tastendes, suchen-
des Treiben hinführen soll.
Und ich lasse mich hierin auch
von dem blöden Getue nicht
irre machen, durch das die
Kleinen im Geist ihren Mit-
gliedsbeitrag zur Genossen-
schaft in Bild und Wort leisten.
GESCHRIEBEN AUGUST 1918. CG.
Warum hat der Mann, die
Frau im Bilde zwei rechte
Beine oder unmögliche Hand-
gelenke? Der neue Stil, der
neue Ausdruck der Gedan-
ken fordert es eben. Und
ich suche ehrlich den Gedan-
ken aus dem Bilde herauszu-
lesen. Selten mit klarem Er-
folg. — Wenn ein Führer vom
jungen Geschlecht gefeiert
werden soll, so denkt dies zu-
nächst an Tolstoi. Seine Leh-
ren von der sieghaften Kraft
der Menschenliebe beherrscht
die Geister auch jetzt noch.
Tolstoi hat sich auch über
künstlerische Dinge geäußert.
Ihm gilt nur die Kunst, die
auf das Volk bessernd, be-
lehrend einwirkt. Es schätzt
den Künstler durchaus da-
nach ab, ob er im Sinne der Sittlichkeit und
der Menschenliebe auf einen weiten Kreis
wirke. Sein Feind ist das Ästhetentum, jene
Kunst, die nur zu den Wenigen, den geistig
Eingestellten, den künstlerisch Satten spricht.
Ich frage mich nun oft vor Arbeiten der jungen
Schule, ob sie Tolstois Forderung entspreche.
Ich gebe mir große Mühe, sie zu verstehen. Bei
vielen gelingt es mir nicht. Das kann seinen
Grund haben, weil meine Aufnahmekraft unter
oder über dem geistigen Mittel der Masse steht,
das heißt, weil ich zu wenig künstlerisch aus-
gebildet oder bereits zu verbildet bin, als daß
die Arbeiten unmittelbar zu mir sprechen könn-
ten. Ich suche im Geist vor ihnen nach einem
Erklärer. Soweit ich beim Um-
sehen erfahren konnte, geht
es zunächst der Mehrzahl der
Gebildeten und wohl noch
vielmehr der Masse der Kunst-
ungebildeten ebenso. Das
kann vielleicht mit der Zeit
sich ändern, und es scheint
das Ziel der jungen Schule,
der Welt zu zeigen oder sie
doch dahin zu belehren, daß
ihre Werke nicht Bildrätsel
für geistreiche Leute, sondern
Arbeiten sind, die in höherem
Grade auf allgemeines und
sofort wirksames Verstehen
rechnen, als dies ein realisti-
scheres Bild erwarten darf.
— All das zeigt: die Ziele
sind hoch gespannt. Und des-
JANKA GROSSMAN. »MINIATUR«
JANKA GROSSMAN. »MINIATUR«
halb glaube ich an den Nut-
zen der neuen Bewegung.
Nicht weil ich die Gesamt-
leistung sehr hoch einschätze.
Ich sehe da sehr vieles, was
mir stark nachempfundenes
und gequältes Gemachte zu
sein scheint. Aber ich glaube,
daß junger Eifer und hochge-
spanntes Wollen nie vergeb-
lich wirken, sondern befrei-
end sich geltend machen müs-
sen. Das Alte fällt, das ist
der Lauf der Welt, in der
Kunst nicht minder als sonst
im Leben. Auch der Realis-
mus mußte seinen Weg vol-
lenden, auch für ihn gibt es
eine Erfüllung des Zieles und
mit diesem die Ermüdung;
denn das Anstreben ist das
Leben der Kunst, nicht das
Verharren im wenn auch noch so mühsam Er-
reichten. Zu allen kunstbegeisterten Zeiten än-
derte sich mindestens mit jedem Menschenalter
das Kunstziel. Ideale haben selten ein Lebens-
alter, das über einige Jahrzehnte hinausreicht.
Jede Zeit stellt sich ihr Ziel und jeder einzelne
hat sein eigenes Ziel. Es ist unbillig, von ihm
dasselbe Ziel zu fordern, daß ein anderer, eine
andere Zeit, als das ihrige ansahen. Man kann
den Wert des Zieles verschieden beurteilen, ja
ein solches verdammen. Aber das Ziel der Ver-
gangenheit braucht nicht zugleich das der Ge-
genwart zu sein. Es nützt nichts, wenn man jene
als Verfall-Menschen brandmarkt, die vom Alten
abgehen, um Neues zu erstreben! Sie sind viel-
leicht kleiner, als das Ge-
schlecht vor ihnen, aber sie
sind aus anderer Umgebung
erwachsen, in anderen Ver-
hältnissen gereift und denken
daher anders. — Und so lei-
sten vielleicht die jungen Män-
ner doch der Gesamtheit gute
Dienste. Ich glaube es, wenn
ich gleich noch nirgends den
Gipfelpunkt erkennen kann,
auf den ihr tastendes, suchen-
des Treiben hinführen soll.
Und ich lasse mich hierin auch
von dem blöden Getue nicht
irre machen, durch das die
Kleinen im Geist ihren Mit-
gliedsbeitrag zur Genossen-
schaft in Bild und Wort leisten.
GESCHRIEBEN AUGUST 1918. CG.