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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 44.1919

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Michel, Wilhelm: Gemeindebildung durch Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9120#0294

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maria sinsteden—asperden.

bestickte hutbänder.

GEMEINDEBILDUNG DURCH KUNST.

von wilhelm michel.

Kunst steigt als soziales Erzeugnis aus dem
Mehrzahlhaften im Künstler hervor. Nicht
in dem Sinne, als sei die Gemeinschaft die
wahre Erzeugerin und der künstlerische Einzel-
geist nur Werkzeug oder Durchgang. Die Per-
sönlichkeit bleibt im Kunstschaffen immer das
Entscheidende. Aber im Kunstschaffen wird
nur der Teil der Persönlichkeit wirksam, durch
den das künstlerische Individuum mit der unten
brausenden Gemeinde und mit allen Chören
der Sonnen und Planeten in Verbindung steht.
Es ist keineswegs erforderlich, daß die zuge-
hörige Gemeinde diese Verbindung selbst be-
wußt anerkenne. Wenn auch Volksfaßlichkeit
ein erwünschtes und erstrebenswertes Akzi-
dens ist, so liegt das eigentliche Kriterium der
Volkstümlichkeit doch nur im Werke selbst, als
Tatsache, als wirkende Kraft.

Kräfte der Mehrzahl speisen die Kunst, und
deren Höchstes entsteht nur da, wo diese
Kräfte breiten Stromes und in geräumiger
Rinne von der Gesamtheit zum schöpferischen
Individuum fließen. Dann erheben sich Ägyp-
tens Tempel und Griechenlands Götter; dann
wird einem Menschen das ungeheure Los zuteil,
gleich einem Grünewald den Geist ganzer Jahr-
hunderte, Völker und Erdteile in wenigen
Tafeln endgültig auszusprechen.

Als Produkt der Gemeinschaft legitimiert
sich die Kunst nicht klarer als dadurch, daß sie
ihrerseits wieder Gemeinschaft wirkt. Sie ruft
immer eine Mehrzahl vor ihre Entzückungen.
Sie will nicht nur Chorlied sein, sie will auch
von einer lebensvoll beseelten, in Liebe geord-
neten Masse gehört werden. Alle Kunst hat
den orphischen Trieb in sich, Totes zu beleben,

Feindliches zu gesellen, Wildes zu organisieren:
Volk zu verwirklichen. Wie in der schöpfe-
rischen Persönlichkeit nur der Teil wirkt, der
mit der Gemeinschaft in Verbindung steht, so
wendet sich das Geschaffene auch nur an das
in uns, was wir mit der Mehrzahl der Volks-
genossen gemeinsam haben.

So wirkt Kunst Verbrüderung, so bildet sie
Gemeinde. Sie ist eines der großen Versöh-
nungselemente, die unter Menschen wirksam
sind, eine Erscheinungsform der Liebe, die uns
unablässig aus unserer Verschlossenheit hervor-
lockt und uns mächtig der Gesamtheit anglie-
dert, mit und ohne unsern Willen.....w. m.

Zu allen Zeiten gab es Künstler, die in ihrem
Schaffen den unmittelbaren Ausdruck seelischer
Spannungen, das Spiegelbild inneren Erlebens zu
geben trachteten. Als einer der wesentlichen Fak-
toren, die das Kunstwerk aufbauen, geht dieses
Element, das man das expressive nennen mag, in
jedes künstlerische Schaffen überhaupt ein, und wo
es das Übergewicht erlangt, mag man von expres-
sionistischer Kunst reden. Aber man muß sich da-
rüber im Klaren sein, daß man nicht einen zeitlich
abgrenzbaren Stil damit bezeichnet, daß es auch
innerhalb des Impressionismus — den ein leichtfer-
tiger Wortaberglaube so gern als Gegenformel be-
trachtet — expressionistische Künstler geben kann,
wie in der jüngsten Zeit, die man auf den Begriff
des Expressionismus festlegen zu können glaubt, durch-
aus modern gesinnte Künstler, die keineswegs ihr
Herz auf der Hand, ihre Seele auf der Zunge tragen.
Sie sind nicht minder wesentlich als Träger der Ent-
wicklung, wenn auch ihre Kunst nicht der aus einem
voreilig geprägten Stilbegriff gewonnenen Definition
sich fügt, die weder das Gesamtgebiet der modernen
Kunst umfaßt noch ihre wesentliche Bestimmungen
enthält...................curt glaser.
 
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